(Predigttext: Klagelieder 3, 22-26.31.32)
Die Güte des Herrn ist’s, dass wir nicht gar aus sind, seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende, sondern sie ist alle Morgen neu, und deine Treue ist groß. Der HERR ist mein Teil, spricht meine Seele; darum will ich auf ihn hoffen. Denn der HERR ist freundlich dem, der auf ihn harrt, und dem Menschen, der nach ihm fragt. Es ist ein köstlich Ding, geduldig sein und auf die Hilfe des HERRN hoffen. Denn der HERR verstößt nicht ewig; sondern er betrübt wohl und erbarmt sich wieder nach seiner großen Güte."
Liebe Gemeinde,
ein explodierendes Flugzeug. Hoch aufwirbelnde und sinnlos durch die Luft tanzende Papiere – Akten, Protokolle, Briefe, Verträge. Menschen, die sich verzweifelt zu retten versuchen, manche springen aus schwindelnder Höhe in den sicheren Tod. Und dann sackt gespenstisch langsam das erste der beiden Hochhaustürme in sich zusammen, unter sich die Rettungskräfte von Polizei und Feuerwehr begrabend. Grauklebriger Staub überall, nichts ist mehr auf den Fernsehbildern zu sehen. Staub und Tod überall. Jedem von uns sind diese Bilder vor Augen. Vierzehn Jahre ist das jetzt her. Und wie das bei solchen Ereignissen ist, weiß wohl jeder von uns auch noch ungefähr, wo und wie er von den Anschlägen vom 11. September erfahren hat. Solche Bilder brennen sich ein. Bei 9/11 vielleicht auch deshalb besonders, weil man diese Katastrophe gleichsam live im Fernsehen verfolgen konnte.
Dass Bilder sich einbrennen, das gilt natürlich nicht nur für diese großen gesamtgesellschaftlichen Ereignisse, sondern ebenso auch für die einschneidenden Erlebnisse im eigenen Leben. Und doch verknüpft sich das immer auch mit den gleichsam kollektiven Erlebnissen und Erinnerungen. Viele von uns können sich wahrscheinlich daran erinnern, was sie an bestimmten historisch wichtigen Tagen gemacht haben. Gott sei Dank sind ja nicht nur Katastrophen dabei, sondern auch Dinge für die man dankbar sein kann.
Der Verfasser der Klagelieder des Jeremia hat allerdings eine Katastrophe hinter sich, die sich ihm und seinen Zeitgenossen eingebrannt hat – gewissermaßen bis heute. Er versteht nicht den Gang der Geschichte. Jerusalem, die Stadt des Gottes Jahwe, des Gottes Israels, liegt in Trümmern. Er selbst ist mit dem Großteil seines Volkes nach Babylon deportiert. Wird er die Heimat je wiedersehen? Wie mag des den Verwandten und Freunden gehen, von denen er so lange nichts gehört hat. Fragen, die angesichts der Fluchtbewegungen, die Deutschland gerade erlebt und mit denen wir hier in Südafrika ja auch schon länger konfrontiert sind, höchst aktuell sind.
An den berühmten Wassern von Babylon sitzt jedenfalls das Volk und weint. Es stimmt eine Klage an, eine Totenklage. In einer solchen Form sind die Klagelieder geschrieben. Sie hadern nicht nur mit dem Schicksal, sondern auch mit Gott: „Ich bin ein Mann, der Elend sehen muss“, heißt es da. Und: „Gott hat mir Fleisch und Haut alt gemacht. Wenn ich schreie und rufe, so stopft er sich die Ohren zu vor meinem Gebet. Er hat meinen Weg vermauert.“
Harte Worte sind das, die auch mit Gott ins Gericht gehen, die nicht verstehen wollen, nicht verstehen können, warum er das zugelassen hat. Die Heilige Stadt zerstört, der Tempel entweiht und vernichtet. Jeremia beschönigt nichts, nicht seine Verzweiflung, nicht die Verbrechen, die er mit ansehen musste. Er schildert alle Gräuel und wirft sie seinem Gott vor. Er tobt, er schreit, er weint, er hadert, er fleht, er trauert. Er weiß nicht wohin mit den Bildern, die er gesehen hat, sie verfolgen ihn bis in Schlaf hinein. Er ist nicht abgestumpft, auch wenn er viel Grausames gesehen hat. Die Bilder von Not und Elend, sie rühren ihn an.
Und dann, mitten in diesem Elend, ganz unvermittelt, man weiß nicht warum, wechselt er plötzlich die Tonlage. Nicht mit dem Verstand, mit dem Herzen will er jetzt sprechen:
Du wirst ja daran gedenken, denn meine Seele sagt mir’s.
Dies nehme ich zu Herzen, darum hoffe ich noch:
Die Güte des Herrn ist’s, das wir nicht gar aus sind; seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende,
sondern sie ist alle Morgen neu, und deine Treue ist groß.
Der Herr ist mein Teil, spricht meine Seele; darum will ich auf ihn hoffen.
Denn der Herr ist freundlich dem, der auf ihn harrt, und dem Menschen, der nach ihm fragt.
Es ist ein köstlich Ding, geduldig sein und auf die Hilfe des Herrn hoffen.
Denn der Herr verstößt nicht ewig;
sondern er betrübt wohl und erbarmt sich wieder nach seiner großen Güte.
Man kann natürlich fragen: Ist das nicht ein schwacher Trost, im Sinne von „es hätte ja auch noch schlimmer kommen können.“ Na toll! denkt man. Da ist man völlig am Ende, hat eine Katastrophe mit knapper Mühe überlebt und dann soll das ein Zeichen für Gottes Güte sein!? „Der Herr verstößt nicht ewig“ – heißt es weiter beim Propheten. Das bedeutet dann wohl aber auch, dass es ganz schön lange dauern kann, bis der Herr einen nicht mehr verstößt. Deshalb spricht der Prophet auch von „harren“, „geduldig sein“ und „hoffen“. Kraftvoller Trost und aufmunternde Zuversicht klingen irgendwie anders.
Bemerkenswert ist immerhin, dass Jeremia seine eigene Geschichte und die seines Volkes nun auf einmal in eine breitere Perspektive setzt. Er nicht nur an seine eigene Geschichte, sondern die seines Volkes mit Gott, der sie doch aus Ägypten geführt hatte. Nicht in eine herrliche, glorreiche Existenz, aber immerhin. Und ganz, so meint Jeremia, ist es auch jetzt nicht aus. Jeremia versucht nicht in der Klage zu versinken, nicht alles noch dunkler zu malen, als es schon ist. Denn das bringt ihn nicht voran, sondern verstärkt die Spirale von Hoffnungslosigkeit und Sinnverlust nur. Wenn man erst einmal mit Klage anfängt, kann man so schnell nicht mehr aufhören, das kennen wir ja auch aus anderen Zusammenhängen.
Bei Jeremia bricht vielmehr ein trotziges Dennoch auf. Auf Gottes Güte wollen wir weiter trauen, jetzt erst recht, auch und weil wir seine Wege nicht verstehen. So schnell geben wir nicht auf. Allen Trümmern dieser Welt zu Trotz spricht er das aus: Ich will mich an etwas anderes erinnern, damit meine Hoffnung wiederkommt: Von Gottes Güte kommt es, dass wir noch leben. Ein trotziges Dennoch schleudert er dieser Welt entgegen. Und dann auch dieses: Ich will, ich will leben Und: ich will nicht von diesem meinem Gott lassen. Ich weiß nicht, warum alles so geschehen ist, weiß nicht warum Gott das zugelassen hat. Vielleicht ist er mir oft nur eine Rätselmacht: dunkel, verborgen, unnahbar. Und doch erinnere ich mich doch aus seiner Güte: Da, wo ich mich angenommen und verstanden weiß. Da wo ich merke, dass Gott über diese Welt hinausgeht. Wo ich merke, dass die harte Wirklichkeit um mich herum nicht das letzte Wort hat. Ich will leben, das ruft er der Welt um ihn herum und auch seinem Gott entgegen. Mitten im Tod will ich leben und überleben. Weil ich dennoch nicht von Gottes Güte lassen kann. Und vielleicht ist Gott genau da, in diesem trotzigen, nicht bändigbaren Ich will. Vielleicht ist Gott genau da, nicht bei den Starken und Mächtigen, sondern mitten im Leid, bei den Leidenden.
Ich bewundere Menschen, die in so ausweglosen Situationen, in privaten Katastrophen wie in den großen Katastrophen unserer Zeit den Mut zu diesem Ich will aufzubringen vermögen. Ich wünsche mir, das auch zu können. Nicht abzulassen von dem Vertrauen auf die Güte Gottes.
Schon vor vielen Jahren habe ich ein Buch gelesen, das mir bei diesen Gedanken zu den Klageliedern in den Sinn kam. Es sind die „Ostpreußischen Tagebücher“ des Grafen Lehndorff aus den letzten Kriegsmonaten und den ersten Monaten und sowjetischer Militärmacht in Königsberg, die er als Arzt erlebt hat. Bei all den bewegenden Schilderungen bleibt mir immer ein Satz hängen: „Es ist ein schwer zu beschreibendes Gefühl, auch so ein ad acta gelegter Mensch zu sein. Und wenn man nicht wüsste, dass Gott niemanden beiseite tut, könnte man wohl verzweifeln.“ Von vielen Menschen weiß ich, dass sie das in dieser schweren Zeit am Leben gehalten hat: das Gott niemanden beiseite tut. Dass er über alles Scheitern und alle Verzweiflung Menschen Kraft zu einem neuen Anfang schenken. Dass er uns die Kraft dazu geben kann das zu sagen: Ich will, „denn deine Treue ist groß“. Das kann selbst Jeremia in dieser Verzweiflung sagen. Einmal kann er Gott in seiner Klage sogar direkt anreden und Du sagen. Weil er selbst ein von Gott angesprochener ist: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst. Ich habe dich bei deinem Namen gerufen: Du bist mein.
Natürlich ist uns Jeremia mühsamer Glaube heute besonders nahe. Unsere Lebensstimmung ist gleichsam auch eingetrübt. Wir sehen die Krisenherde dieser Welt, wir sehen das Elend jeden Tag nicht nur im Fernsehen, sondern auch in unseren Straßen. Wir brauchen die Menschen nur zu fragen, die hier zu uns kommen, aus Zimbabwe, aus dem Kongo, aus Ruanda. Wir machen uns Sorgen um unsere eigene Zukunft und die unserer Kinder. Manche von uns fühlen sich fremd im eigenen Land. Wir sehen, wie die Spannungen zunehmen.
Jeremia freilich, wenn er jetzt bei uns wäre, würde vielleicht Einspruch erheben. Eure Probleme sind doch wenig zu dem, was ich erlebt habe, könnte er sagen. Vielen von euch geht es doch noch gut. Ihr habt eure Heimat nicht verloren, ihr habt es geschafft, eure Problem ohne Krieg, sondern durch Verhandlungen und Ausgleich zu lösen.
Insofern rückt Jeremia unsere Sorgen vielleicht auch in den richtigen. Ja, wir haben Grund zum Klagen – und am Braaifeuer geschieht da ja auch genug und es braucht seinen Ort – aber ebenso Grund zur Dankbarkeit für das was gelungen ist. Es hätte hier, in unserem Land, wahrlich viel schlimmer kommen können. Es gibt Gelingendes, Zeichen der Hoffnung, und gerade in den vielen sozialen Projekten erleben wir das ja auch.
So können wir dann bei Jeremia auch hin die Schule und den Umgang mit unseren Sorgen und nicht zuletzt auch Dankbarkeit lernen. Mitten in seiner großen Traurigkeit und seinen gut begründeten Ängsten schafft es der Prophet nämlich, aufmerksam zu werden auf die Zeichen für die Güte und Barmherzigkeit Gottes. Er zwingt sich dazu, vom eigenen Unglück und dem Leid seines Volkes abzusehen. Er diszipliniert sich und lässt sich nicht hängen. Deshalb schaut der Prophet auf den Anbruch des Morgens und macht sich klar, dass es keine Selbstverständlichkeit ist, den Beginn des nächsten Tages zu erleben. Der Anbruch des Tages wird ihm zum Zeichen der Barmherzigkeit, der Treue und Zuverlässigkeit Gottes. Die Sonne geht auf, das Licht wird neu, Leben ist möglich, neue Chancen tun sich auf, man kann etwas tun, in dieser Welt, für diese Welt. „Die Güte des HERRN ist’s, dass wir nicht gar aus sind, seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende, sondern sie ist alle Morgen neu, und deine Treue ist groß.“
Amen.