(Predigttext: Mk. 2,1-12)
1 Und nach einigen Tagen ging er wieder nach Kapernaum; und es wurde bekannt, dass er im Hause war.
2 Und es versammelten sich viele, sodass sie nicht Raum hatten, auch nicht draußen vor der Tür; und er sagte ihnen das Wort.
3 Und es kamen einige zu ihm, die brachten einen Gelähmten, von vieren getragen.
4 Und da sie ihn nicht zu ihm bringen konnten wegen der Menge, deckten sie das Dach auf, wo er war, machten ein Loch und ließen das Bett herunter, auf dem der Gelähmte lag.
5 Als nun Jesus ihren Glauben sah, sprach er zu dem Gelähmten: Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben.
6 Es saßen da aber einige Schriftgelehrte und dachten in ihren Herzen:
7 Wie redet der so? Er lästert Gott! Wer kann Sünden vergeben als Gott allein?
8 Und Jesus erkannte sogleich in seinem Geist, dass sie so bei sich selbst dachten, und sprach zu ihnen: Was denkt ihr solches in euren Herzen?
9 Was ist leichter, zu dem Gelähmten zu sagen: Dir sind deine Sünden vergeben, oder zu sagen: Steh auf, nimm dein Bett und geh umher?
10 Damit ihr aber wisst, dass der Menschensohn Vollmacht hat, Sünden zu vergeben auf Erden - sprach er zu dem Gelähmten:
11 Ich sage dir, steh auf, nimm dein Bett und geh heim!
12 Und er stand auf, nahm sein Bett und ging alsbald hinaus vor aller Augen, sodass sie sich alle entsetzten und Gott priesen und sprachen: Wir haben so etwas noch nie gesehen.
Liebe Gemeinde!
Ein Freund, ein guter Freund,
Das ist das Schönste was es gibt auf der Welt,
so beginnt der Refrain ein bekannten Schlagers aus den frühen 30er Jahren, bekannt geworden vor allem durch den eins Rühmann-Film „Die drei von der Tankstelle“. Das Lied rühmt die Kraft der Freundschaft, wie auch der dazugehörige Film das tut. Und wer wollte das nicht tun, der das Geschenk echter Freundschaft erfahren hat. Mit echten Freunden kann man durch dick und dünne gehen. Und deshalb heißt es weiter:
Ein Freund bleibt immer Freund
Und wenn die ganze Welt zusammenfällt.
Drum sei doch nicht betrübt,
Wenn dich dein Schatz nicht mehr liebt.
Ein Freund, ein guter Freund,
Das ist das Schönste was es gibt.
Fast zu schön, um wahr zu sein.
Von der der Kraft der Freundschaft handelt auch der Predigttext. Er führt allerdings nicht in die liebliche Idylle einer Freundschaft in sonnigen Zeiten, sondern zunächst ins Elend einer Zeit, die Krankheit, Behinderung als Strafe angesehen hat. So war es jedenfalls weithin in der Zeit Jesu – und genau das musste der von Kindesbeinen an Gelähmte im heutigen Predigttext erleiden. Er trägt eben an der Schuld seiner Eltern und Großeltern, so sagten es die Leute. Einfach von so kann so etwas ja nicht kommen. Als Außenseiter hatte er deshalb leben müssen, schon immer. Manches hatte er versucht, um zu genesen, aber letztlich war alles vergeblich gewesen. Immerhin, einige gute Freunde, die nicht kümmerte, was die Leute so redeten, die waren ihm geblieben.
Und genau diese Freunde stürzten eines Morgens begeistert in die kleine Kammer irgendwo in Kapernaum, in der der Gelähmte mehr recht als schlecht lebte. Sie erzählen ihm von dem Wunderrabbi aus Nazareth, von seinen Worten, die Menschen Hoffnung geben und auch von seinen Taten. Davon, wie er Menschen an Seele und Leib heilten kann. Der Gelähmte ist zunächst skeptisch. Zu oft hat er gehofft, zu viel ausprobiert, um sich so einfach überzeugen zu lassen. Aber die Begeisterung der Freunde kennt keine Grenzen. Sie nehmen das Bettgestell, auf dem er liegt, und rennen einfach los.
Und schon ist Bewegung in der Geschichte, die einen ersten Zuspruch enthält. Da Freunde sich begeistern, anderen beistehen, da kann etwas geschehen, da kann Resignation überwunden werden.
Doch zunächst ist die Enttäuschung auch bei den Freunden des Gelähmten groß. Da waren sie im Eiltempo durch den Ort gerast mit ihrem Freund auf der Bahre. Und dann das: Das Haus, in dem Jesus war, ist umringt von einer Menschenmasse. Man braucht schon ziemlich spitze Ellenbogen, um sich da durchzudrängeln. Mit einem Kranken auf einer Bahre ist daran nicht zu denken. Und vielleicht wollen einige der Zuschauer sie schon wegschicken. Die Freunde überlegen, der eine will aufgeben, der andere sinnt nach, schließlich hat einer eine verwegene Idee: „Kommt, wir probieren´s von oben.“ „Von oben“, mögen die anderen verwundert gefragt haben. „Klar, wir hieven ihn aufs Dach und machen dann ein Loch.“ „Das ist doch Sachbeschädigung“, wird einer erwidert haben. „Und wenn schon“, sagt ein anderer, „auch wenn sie´s nicht gut finden werden. Jesus wird uns nicht wegschicken, und unseren Freund schon gar nicht.“
Gesagt, getan. Die Freunde decken das Dach ab und lassen den Gelähmten zu Jesus herunter. Und dann gibt uns Markus, der Erzähler der Geschichte, für einen Augenblick einen Einblick in das was Jesus bewegt. Er ist nämlich erstaunt, verwundert, gerührt, von dieser Freundschaft, die alle Hindernisse überwindet. Und er sieht offensichtlich sehr genau, dass es die Freunde waren, die alles getan haben, damit der Gelähmte zu Jesus kommt. Es ist nicht der Glaube des Gelähmten, den er wahrnimmt, sondern der gewissermaßen stellvertretende Glaube der Freunde, der ihm wichtig ist: als er ihren Glauben sah. Der Glaube ist hier nicht nur Sache eines Einzelnen, Privatsache, sondern etwas Gemeinschaftliches. Da wo Menschen gemeinsam etwas glauben, sich gemeinsam für etwas begeistern, da ist Aufbruch und Neubeginn möglich.
Doch die Geschichte geht weiter. Liebevoll spricht Jesus den vielleicht immer noch skeptischen und etwas ängstlichen Gelähmten an: „Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben“. Jesus weiß, wie unerhört diese Aussage ist und sogleich regt sich schriftgelehrter Protest: Das kann nur Gott allein. Ein Sündenbekenntnis ist gar nicht nötig. Auch ein Kyrieeleison haben weder der Gelähmte noch seine Freunde angestimmt. Nach Schuld wird nicht gefragt. Nein, bedingungslos spricht Jesus hier Vergebung zu und sagt damit auch: Alles, was dich von Gott und von dir selbst trennt, das hat jetzt keine Kraft, das soll nicht auf deiner Seele wie ein Stein liegen, das soll dein Herz nicht in Ketten legen und deinen ganzen Körper lähmen.
Von der Reaktion des Gelähmten vernehmen wir nichts. Vielleicht ist er berührt von dem Blick Jesu, vielleicht rühren seine Worte etwas in ihm auf. Vielleicht schaut er aber auch weiter skeptisch drein, denn bewegen kann er sich noch immer noch nicht. Auch von den Freunden hören wir nichts mehr. Vielleicht hören sie etwas verstört dem Streit zu, der nun über ihren Köpfe hinweg zwischen Jesus und den Schriftgelehrten beginnt. Und hören dann plötzlich einen deutlich und kraftvollen Satz Jesu, der sich wieder an den Gelähmten richtet_ „Ich sage dir, steht auf, nimm dein Bett und geht heim.“
Jetzt ereignet sich nach dem Wunder des stellvertretenden Glaubens der Freunde, nach dem Wunder der bedingungslosen Sündenvergebung durch Jesu ein drittes Wunder, fast eine kleine Auferstehung, nicht von den Toten, aber doch eine Auferstehung heraus aus den Fesseln der Lähmung, aus den Fesseln der Konvention, aus dem, was die Leute über den Gelähmten seit Kindesbeinen gesagt haben und was er wieder und wieder gehört und schließlich vielleicht selbst geglaubt, obwohl es so unendlich gnadenlos ist: selbst Schuld. Nein sagt Jesus, nicht selbst Schuld. Steh auf und geh weg von dem, was Leute über dich denken, wie sie dich festlegen wollen auf Rollen und Mustern. Nimm dein Leben in die Hand und lebe...
Ich sehe den Gelähmten aufstehen, erst zaghaft, dann immer sicher, schließlich springt und hüpft er, fällt seinen Freunden in die Arme, dankt ihnen, dankt Jesus. Ihr Glaube ist nicht enttäuscht worden...
Eigentlich könnte man jetzt schließen. Ein echtes Happy End. Die Freundschaft hat sich bewährt. Sie sind durch dick und dünn gegangen, auch wenn die Heilung an Seele und Leib ohne Jesus nicht vonstattengegangen wäre.
Und doch frage ich mich, wo wir eigentlich stehen in dieser Geschichte, nicht jede Seele wird einfach gesund, nicht jede körperliche Lähmung einfach heil. Was wäre eigentlich geschehen, wenn die Geschichte mit der Zusage der Sündenvergebung, aber nicht mit der Heilung schließen würde?
Nun, die Geschichte schließt bei Markus wohl so, weil im Reich Gottes, bei Jesus Christus, beides zusammengehört: dass uns als Menschen das zugesprochen wird, das wir in all unserer Bruchstückhaftigkeit, in unseren Lähmungen, in unserem Unvollendet sein, das doch einmal bei Gott sein werden, heil, ganz, vollendet.
Aber es gilt auch, wir leben in der noch nicht erlösten Welt – einer Welt, die alles andere als ganz, heil, vollkommen ist. Und doch gibt es Augenblicke, in denen uns das so scheint, Augenblicke, in den wir Erlösung, Heil schmecken und spüren können. Auch die Welt Jesu ist nicht heil und ganz gewesen, aber es hat diese Moment der Erlösung gegeben, die Christus geschenkt hat und immer neu schenkt – ein Vorgeschmack auf die noch ausstehende Neuschöpfung dieser Welt. Und eines bleibt und gilt uns: jener liebevoll Blick Jesu, jenes Wort; deine Sünden sind dir vergeben. Bei mir wirst du das erfahren, heil zu sein, ganz, bewahrt, ein Mensch, den Gott gewollt hat.
Um das zu erfahren, brauchen wir Freunde, Menschen, die auch im Glauben mit uns durch dick und dünne gehen, auch wenn die ganze Welt zusammenfällt, aber wir brauchen nicht nur Freunde – auch sie können enttäuschen, nicht jede Freundschaft währt ewig – sondern wir brauchen den liebenden, den annehmenden Blick jenes einen Freundes und Erlösers: Jesus Christus, des Freundes, der sein Leben für seine Freunde gelassen hat. Er spricht zu uns, zu mir, zu dir: Dir gilt die Güte Gottes. Was dich von Gott und von dir selbst trennt, das nehme ich von dir. Du bist ein freier Mensch. Ein Gotteskind! Davon zeugt auch die Taufe von Thies heute, ein Kind, das mit Gottes Gaben ins Leben gehen soll: Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit.
Da wird auch über uns ein Dach abgedeckt und der Blick nach oben frei. Welch eine Perspektive, liebe Gemeinde. Und welch ein tiefer Sinn. Der Himmel von Kapernaum ist Abbild, Heilszeichen für den geöffneten Himmel Gottes. Heute und hier. Schau hin. Das Fenster zum Himmel ist offen! Glaube daran und du wirst leben.
Amen.