(Predigttext: Röm. 13, 8-12)
8 Seid niemandem etwas schuldig, außer dass ihr euch untereinander liebt; denn wer den andern liebt, der hat das Gesetz erfüllt.
9 Denn was da gesagt ist (2.Mose 20,13-17): »Du sollst nicht ehebrechen; du sollst nicht töten; du sollst nicht stehlen; du sollst nicht begehren«, und was da sonst an Geboten ist, das wird in diesem Wort zusammengefasst (3.Mose 19,18): »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. «
10 Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses. So ist nun die Liebe des Gesetzes Erfüllung. Leben im Licht des kommenden Tages
11 Und das tut, weil ihr die Zeit erkennt, nämlich dass die Stunde da ist, aufzustehen vom Schlaf, denn unser Heil ist jetzt näher als zu der Zeit, da wir gläubig wurden.
12 Die Nacht ist vorgerückt, der Tag aber nahe herbeigekommen. So lasst uns ablegen die Werke der Finsternis und anlegen die Waffen des Lichts.
13 Lasst uns ehrbar leben wie am Tage, nicht in Fressen und Saufen, nicht in Unzucht und Ausschweifung, nicht in Hader und Eifersucht;
14 sondern zieht an den Herrn Jesus Christus und sorgt für den Leib nicht so, dass ihr den Begierden verfallt.
Liebe Gemeinde,
Endlich wieder Adventszeit. Wenn auch ganz südafrikanisch, also ohne Schnee, Kälte und vermeintlichen Weihnachtsstress. Auch uns, in unserer Sommerweihnachtszeit geht es um etwas, was man doch loslösen kann von den Wetterverhältnissen der nördlichen Hemisphäre. Advent und Weihnachten – das ist auch. Sehnsucht nach Beheimatung, Besinnlichkeit, Gemütlichkeit. Aber da ist auch das Wissen, dass unser Leben wie unsere Welt nicht ganz, nicht heil ist: wir leben „in der noch nicht erlösten Welt“ (Barmen, These 5). Aber die Sehnsucht danach, sie ist da.
„Alt und Jung sollen nun, von der Rast des Lebens einmal ruhn“, so sagt es das Christkind zu Knecht Ruprecht in Theodor Storms bekanntem Gedicht. Aber warum wollen wir „ruhen“, gerade in der Advents- und Weihnachtszeit? Und was unterscheidet dieses zur „Ruhe“ kommen von „in Ruhe gelassen werden“? Wenn es im Advent um echte Sehnsucht geht, dann sicher um mehr als nur passive Ruhe. Es geht eher um ein aktives Warten. Advent heißt wir warten dem Heil entgegen.
Und nun liegt da der Briefausschnitt von Paulus in unserem Briefkasten. Auch bei Paulus ist Advent, aber ganz anders, ganz kompakt, ohne Plätzchen und Glühwein Advent kompakt, als gleichsam konzentrierte Wartezeit, das ja, aber doch nicht in der Endlosschleife jährlicher Wiederholung. Paulus wartet auf das Kommen Christi, das noch zu seinen Lebzeiten anbricht. Ihm geht es gleichsam um das Leben als Gottesdienst im Alltag der Welt, einer Welt allerdings, die sich dem Ende zuneigt. Das Liebesgebot des Glaubens hat sich – das fasst 13,8-13 noch einmal prägnant zusammen – im Alltag zu bewähren. Diese Bewährung erfolgt unter dem Zeichen der in nächster Zukunft zu erwartenden Wiederkunft des Herrn. mit Das Bild von der vorgerückten Nacht (13,11f) schärft das noch einmal ein und Paulus bezieht es mit der Formulierung vom „Anziehen des Herrn Jesus Christus“ erneut auf die Liebesordnung wie den Lebenswandel der Gemeinde. Solche Liebe ist Erfüllung des Gesetzes (13,10).
Wir leben nicht in dieser Erwartung und dieser Zeit. Und doch liegen diese Zeilen in unserer Mailbox. In vier Punkten lassen sich Differenzen, aber auch mögliche Anknüpfungen markieren:
1. Diese Art des endzeitlichen Ermahnens ist nicht mehr die unsere. Wir denken nicht mehr in großen kosmischen Katastrophen – trotz Hollywood. Das Ende kann schnell, unerwartet kommen. Die Erfahrung machen wir bei Krankheiten, unerwarteten Todesfällen, Verkehrsunfällen, Katastrophen. Aber dem Ende, das bei Paulus kein Ende, sondern ein neuer, verheißungsvoller und erwarteter Neuanfang ist, sehnt sich so wie Paulus wohl keiner entgegen. Wir spüren das nicht als freudige Erwartung, eher als angstvolle Erfahrung der Brüchigkeit und Endlichkeit unserer Existenz. Da liegt der Schmerz unseres Lebens.
2. Die Worte von der Liebesordnung der Gemeinde sind ein hohes, bewundernswertes Ideal, aber sie müssen geerdet, heruntergebrochen werden, wollen sie nicht abstraktes Festtagsklischee sein oder sich in moralinsäuerlicher Aktualisierung paulinischer Lasterkataloge verlieren. Aber geblieben ist die Sehnsucht danach, das Liebe einmal wahr wird, sich erfüllt und sei es nur zur Weihnachzeit. Nicht nur, weil es irgendwie doch nett wäre und so schön zu dieser Zeit passt, sondern weil sich damit die Hoffnung auf Ganzheit und Erfüllung verbindet. Sehnsucht eben.
3. Christus anziehen – da kann man schnell bei der geistlichen Waffenrüstung aus dem Epheserbrief sein und sich trotzig der bösen Welt entgegenstellen. Aber es ist interessant, dass Paulus genau das nicht tut. Wie sollte man sonst den Einschub 13,1-7 erklären – die Obrigkeit als Gottes Dienerin, sogar eine, die einen verfolgt? Kein Ruf zur frommen Rebellion, keine radikale Weltverneinung, sondern Bewährung in dieser Welt – wenn auch nur noch für kurze Zeit. Eben deshalb fasziniert es mich, dass Paulus nicht anfängt, mitten in der Nacht nur noch das Dunkle zu sehen, nur noch den Verfall und die Verderbnis anprangert. Er macht es genau andersrum: Mitten im Dunkel kann er schon das Licht des anbrechenden Tages sehen und davon reden.
4. Christus anziehen – das ist ein Anklang auf das, was Grund zur Hoffnung gibt. Der neue Mensch, der ins uns wachsen soll. Der neue Mensch, der in uns schon begonnen hat, ganz klassisch, mit der Taufe. Man kann hier wohl eine alte Taufliturgie entdecken. In den Widersprüchen und Spannungen einer vielleicht vergehenden, gewiss aber bleibend zerrissenen Welt von Christus angenommen, in seinem Gewand geborgen zu sein, weil er dieses „Ja, du bist mein“ schon zu mir gesprochen hat. Aus der Taufe muss man nach Luther jedoch bekanntlich täglich neu herauskriechen und immer wieder den alten Adam ersäufen. Wenn der neue Mensch doch nicht so schnell geboren wird wie Paulus das dachte, ist es gar nicht so schlecht, wenn man daran alle Jahre erinnert wird. Und geht es in der Weihnachtszeit nicht auch um die „Geburtlichkeit des Menschen“? Wer sich in der Adventszeit daran erinnern lässt, dass er schon in dem Christus getragen ist, auf dessen Ankunft er wartet, der kann dann vielleicht auch mit Paulus mitten in der Nacht vom Tage reden. So entsteht Hoffnung und Lebenszugewandtheit, weil ich von Gott und von der Welt noch etwas erwarten kann.
Von diesen Hoffnungen, aber auch von den Spannungen lässt sich „nur“ in Bildern reden, Bildern, die etwas in uns zum Schwingen bringen – selbst wenn man wie ich ein südafrikanisches Sommerweihnachtsfest feiern darf. Die Advents- und Weihnachtszeit lebt von solchen Bildern, von symbolischer Sprache, die die Verwundbarkeit und die Sehnsucht unseres Lebens zum Thema machen, ohne diese Spannungen einseitig aufzulösen. Paulus gebraucht ein solches Bild: „Die Nacht ist vorgerückt, der Tag ist nahe herbeigekommen.“ Keine andere Zeit wie diese lebt vom Ineinander und Gegeneinander von Schmerz und Sehnsucht. Schmerz und Sehnsucht verlieren sich aber in christlicher Perspektive nicht irgendwohin, sondern zielen auf die Erkenntnis der eigenen Erlösungsbedürftigkeit. Dass das Heil eben nicht aus mir selbst kommt, sondern erwartet, ersehnt, empfangen werden muss, wird gerade in der Adventszeit thematisiert.
In kaum einem Lied wird das so deutlich wie im Wochenlied von Jochen Klepper „Die Nacht ist vorgedrungen“, das in der Verbindung von biographischer Situation und der Aufnahme dieses paulinischen Bildes eine eigentümliche Faszination entfaltet. Mitten im Dunkel wird vom nahenden Tag gesungen, in tiefster Nacht das Licht des Morgensterns besungen, aber kein Leid, keine Träne dabei vergessen. Hin und her gerissen zwischen Hoffnung und Verzweiflung in diesen Zeiten nationalsozialistischen Unrechts, zwischen dunkler Nacht und Morgenlicht bewegt sich sein Gemütszustand. Mit Hanni, einer Jüdin, verheiratet, droht ihm immer wieder Schreibverbot und ihr die gesellschaftliche Isolation. Zugleich hat er mit seinem in diesem Jahr veröffentlichten Roman über den Preußenkönig „Der Vater“ einen enormen Erfolg. Aber ständig muss er um gnädige Sondergenehmigungen bitten; hat den endgültigen Ausschluss aus der Schrifttumskammer und damit das existenzielle Aus immer wieder vor Augen. „... meine Seele ist krank“ schreibt er am 16. Dezember in diesen bedrückenden Adventstagen, „nicht an der ‚Zeit’ - am eigenen Menschsein.“ Dunkelheit und Stille umgibt den angefochtenen Dichter. „Den ganzen Tag wird es nicht hell. ... Wieder bittere Nachrichten aus Palästina. Wer es kann, wandert nach Amerika weiter.“ schreibt er einen Tag später. Aber zur Flucht kann er sich nicht entschließen. Zu sehr hängt er an seinem Vaterland.
Hin und her gerissen zwischen Aufbegehren gegen das Unrecht, verbunden mit der Angst um seine Frau und sein Stiefkind, und seinem preußischen Patriotismus, bleibt er in Deutschland bis es für ihn und die Seinen zu spät ist, bis zum gemeinsamen Tod. Am 10. Dezember 1942 sieht er für sich und die seine Familie keinen Ausweg mehr in dieser dunklen menschenverachtenden Zeit. Die endgültige Ablehnung einer Ausreise für seine Familie nach Schweden und das totale Schreibverbot haben sein Leben zerstört. Alles ist aus. Da ist kein Licht in dunkler Nacht; jedenfalls nicht auf dieser Welt, nicht in dieser Zeit. Aber selbst in dieser schweren Stunde sucht der verzweifelt Halt in seinem Glauben: „Nachmittags die Verhandlung auf dem Sicherheitsdienst. Wir sterben nun - ach, auch das steht bei Gott - Wir heute Nacht gemeinsam in den Tod. Über uns steht in den letzten Stunden das Bild des Segnenden Christus, der um uns ringt. In dessen Anblick endet unser Leben.“ so lauten die letzten Zeilen in seinem Tagebuch.
Doch das alles verschlingende Nichts hat bei Jochen Klepper nicht das letzte Wort. Man erkennt das gerade an der 4. und 5. Strophe dieses Liedes:
4. Noch manche Nacht wird fallen
auf Menschenleid und -schuld.
Doch wandert nun mit allen
der Stern der Gotteshuld.
Beglänzt von seinem Lichte,
hält euch kein Dunkel mehr.
Von Gottes Angesichte
kam euch die Rettung her.
Noch immer leiden Menschen. Noch immer werden Menschen schuldig. Wir wissen nicht, wie lange das andauern wird. Wie viele Nächte noch kommen, in denen jemand weint, weil er das Leben verfehlt hat – wir wissen es nicht. „Noch manche Nacht wird fallen ...“ Aber etwas hat sich verändert, etwas Entscheidendes. Keiner, der über sein verfehltes Leben weint, ist mehr allein dem Dunkel ausgeliefert. Keiner, der schuldig geworden ist und etwas tat, was er danach tief bereute, und keiner, der versäumt hat, zur richtigen Zeit ein lösendes, mutiges Wort zu sagen, muss sich quälen mit dem Gefühl, auf ewig in dunkler Nacht wie in einem finsteren Kerker eingesperrt zu sein.
Das Dunkel hat keine Macht mehr über uns. Es kann uns nicht mehr fest- und gefangen halten. Denn, so sagt das Lied, es „wandert nun mit allen / der Stern der Gotteshuld“. Was für ein schönes, tröstliches Bild! Es spielt an auf den Stern von Bethlehem und findet ein fremdartiges Wort für ihn. Der Stern als Zeichen der „Gotteshuld“, das mit allen wandert. Sein Licht eröffnet allen, die nicht wissen, wie es weitergehen soll, eine neue hoffnungsvolle Aussicht.
Das schließt nicht, dass es nicht einmal Dunkel werden kann in unserem Leben. Dass Gott uns begleitet heißt dann auch, dass er uns im Dunkeln und Schweren geleiten wird.
5. Gott will im Dunkel wohnen
und hat es doch erhellt.
Als wollte er belohnen,
so richtet er die Welt.
Der sich den Erdkreis baute,
der lässt den Sünder nicht.
Wer hier dem Sohn vertraute,
kommt dort aus dem Gericht.
„Nacht“ und „Dunkel“ werden hier erkennbar als Gottes Ort. Das ist die Herausforderung des Glaubens. ER selbst „will im Dunkel wohnen“, dort will Er sein, „zur Sühne für sein Recht“. Er hat sich durch sein Erscheinen als ohnmächtiges Kind den Verstrickten und Gefangenen „verbündet“. Sein Richten ist nicht tödliche Verurteilung, sondern liebevolle Solidarität. Jene Strophe sagt uns, dass Gott ganz anders auf uns zukommt als wir uns vorstellen und erwarten. Der Richter aller Welt kommt als Retter! Er bringt alles wieder zurecht. Dann werden die quälenden Rätsel gelöst. Dann wird sich alles klären.
Wer hier dem Sohn vertraut, ist darauf schon vorbereitet auf den Advent Gottes. Und dabei bleibt gewiss: Gott ist ein Richter, der uns Menschen nicht hinrichtet, sondern herrichtet. Der uns so herrichtet, dass wir liebens- und lobenswert werden, so dass es am Ende heißt: Dann wird einem jeden von Gott sein Lob zuteilwerden.
Amen.