(Predigttext: Hebr. 4, 14-16)
Liebe Gemeinde,
Mitarbeitersegnung und Beginn der Passionszeit am Sonntag „Invokavit“ – beides bestimmt unseren heutigen Gottesdienst. Als Gemeinde sind wir natürlich gemeinsam unterwegs, Gottes Liebe in dieser Welt zu bezeugen. Als Gemeinde versuchen wir Räume und Orte bereitzustellen, in wir und andere den Glauben kennenlernen, vertiefen und weitergeben können. Wir tun vielleicht manchmal für den einen oder anderen nicht auf die Weise, die er oder sie persönlich bevorzugt. Aber das bringt die Breite einer Gemeinde wie der unseren dann auch mit sich. Dem einen ist es manchmal nicht geistlich genug, der andere findet es zu fromm, zu voraussetzungsreich, ist er oder sie doch nicht ganz auf der Suche. Oder auch nur vorsichtig, zu selbstgewiss, zu selbstsicher von Gott und seinen Taten für uns zu sprechen, weil er weiß, wie bedroht unser Leben ist und wie vorsichtig, ja ehrfürchtig man vom Heiligen, von Gott sprechen sollte. In dieser Vielfalt sind wir gemeinsam unterwegs – und dafür können wir dankbar sein und uns – wie wir das heute tun – unter Gottes Segen stellen.
Dass wir das am Beginn der Passionszeit tun, führt ans dabei in besonderer Weise an die Quellen und den Grund unseres Glaubens. Das ist gut, denn genau dazu ist die Passionszeit da. Sich Zeit nehmen, vielleicht sogar auf etwas verzichten. Von sich selbst erst einmal Abstand nehmen, auf Jesu Weg zu schauen, dann durch diesen Blick dann auch sich selbst und sein eigenes Leben neu sehen zu können. Dazu soll uns auch der heutige Predigttext aus dem Hebräerbrief, Kapitel 4, einen Anstoß geben.
14 Weil wir denn einen großen Hohenpriester haben, Jesus, den Sohn Gottes, der die Himmel durchschritten hat, so lasst uns festhalten an dem Bekenntnis.
15 Denn wir haben nicht einen Hohenpriester, der nicht könnte mit leiden mit unserer Schwachheit, sondern der versucht worden ist in allem wie wir, doch ohne Sünde.
16 Darum lasst uns hinzutreten mit Zuversicht zu dem Thron der Gnade, damit wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden zu der Zeit, wenn wir Hilfe nötig haben.
Diese wenigen Worte wurden vor fast zweitausend Jahren in einem Lehrschreiben für Christinnen und Christen aufgeschrieben. Der Verfasser des Hebräerbriefes selbst nennt seine Zeilen eine „Ermahnung“ (Hebr. 13,22) - so die Luther-Übersetzung. Ich möchte es lieber als Aufruf - im Sinne einer Ermunterung - verstehen.
Grundlage dieses Aufrufs zu einem Leben, das die christliche Hoffnung widerspiegelt, sind die zentralen Inhalte des Glaubensbekenntnisses. Sich mit ihnen auseinanderzusetzen, sie besser verstehen zu lernen, das soll ihnen Mut machen, in ihrem Alltag mit all seinen Herausforderungen am Glauben und an der Hoffnung festzuhalten. Dabei bezieht sich der Autor des Hebräerbriefes auf Vorstellungen aus dem Alten Testament und verbindet sie auf besondere Weise mit Jesus Christus. Für die ersten Adressaten wurde die Botschaft dadurch besonders anschaulich. Für uns Nachgeborene, die wir mit dieser Vorstellungswelt nicht so vertraut sind, ist es nicht einfach, seine Aussagen zu entschlüsseln. Verdichtete Theologie, große kultische Bilder begegnen uns da. Sie sind sichtbar am Vorbild des Tempels in Jerusalem orientiert. Jesus wird mit dem jüdischen Hohenpriester am Tempel verglichen, der auf einen Seite ein Mensch ist und das auch immer bleibt. Wir wissen aus der Geschichte, dass den Hohenpriester, die wir kennen, wahrlich nichts Menschliches fremd gewesen ist. Und doch war es der Hohepriester allein, der einmal im Jahr – zum Versöhnungsfest – das Allerheiligste des Tempels betreten konnte und so die Distanz zwischen Gott und Welt jedenfalls für einen Moment überbrücken konnte.
Man könnte noch viel Historisches zu diesem Bild erwähnen, aber man muss doch erst einmal sagen: dieses Bild, in dem Zusammenhang, in dem es steht, ist nicht mehr unseres. Und wir können und sollen nicht alle Experten für das antike Judentum werden, um diese Texte für uns so zu erschließen, dass sie uns in unserem Leben etwas zu sagen haben.
Himmel und Erde miteinander verbinden, diese Sehnsucht, für die der Hohepriester steht, die ist uns vielleicht nicht fremd. Wer wollte das nicht von sich sagen, alle Himmeldurchschritten haben. Der Weltraum gewissermaßen mit seinen unendlichen Weiten. So beginnen ja nicht nur die Abenteuer des Raumschiffes Enterprise, sondern mit diesen unendlichen Weiten, die einem bewusst machen, wie klein, unscheinbar der Menschen eigentlich ist, wie unsicher auch unser Verständnis von Zeit und Raum, verbindet sich oft zugleich das Staunen darüber, dass wir überhaupt existieren. Und er soll nun die Himmel alle durchschritten haben...
1982 gab es in Deutschland einen Hit von Tom Schilling mit dem Titel Major Tom. Er geht ungefähr so:
Völlig losgelöst
von der Erde
schwebt das Raumschiff
völlig schwerelos
Die Erde schimmert blau, sein letzter Funk kommt
"Grüßt mir meine Frau", und er verstummt
Unten trauern noch die Egoisten
Major Tom denkt sich, wenn die wüssten
mich führt hier ein Licht durch das All
das kennt ihr noch nicht, ich komme bald
mir wird kalt...
So mag es vielleicht sein, wenn wir Menschen den Weltraum erobern wollen. Schwerelos schwebend, losgelöst von der Erde und allem, was an ihr schön und liebenswert ist. Zwar angezogen von einem Licht, aber in tödlicher Kälte endend: „mir wird kalt.“
Offensichtlich brauchen wir als Menschen noch einen anderen Piloten für den Weg durch die Himmel, wenn wir in der Schwerelosigkeit nicht haltlos werden wollen und das Ziel aus den Augen verlieren sollen. Wir brauchen, so denkt es sich jedenfalls der Hebräerbrief, Gottes Sohn, um auf dem Weg durch die Himmel nicht die Liebe und nicht den Nächsten zu verlieren. Mit ihm, dem Gottessohn, muss man aufbrechen – gerade jetzt, am Beginn der Passionszeit -, um nicht im weiten Raum verloren zu gehen.
Das passiert eben nicht nur Piloten wie Major Tom, dass sie auf dem Weg zum Licht die Lieben und den Nächsten vergessen. Der Hebräerbrief mit seiner Mahnung kennt diese Situationen offenbar genau, in denen es schwierig war, am christlichen Glauben festzuhalten, die Überzeugung in Wort und Tat zu leben. Es ist also nichts, wessen wir uns schämen müssten, weil wir die Einzigen wären, denen es so geht. Wir alle brauchen die Ermutigung, uns auf unseren Glauben immer wieder zu besinnen, daraus neue Kraft und Motivation zu schöpfen, mich mit mir selbst auseinanderzusetzen. Dann kann ich mich auch neu zum Mitgefühl motivieren lassen. Drei Ermutigungen, drei Anregungen lassen sich dazu formulieren:
Zum einen: Jesus Christus wird oft als Vorbild genommen. Ja, mit dem Bild des Predigttextes gesprochen: Er ist ein Vorläufer, der bereits einmal den Weg durch das Leben, das Sterben und den Tod vollendet hat. Er ist aber auch mehr: Er ist der Hohepriester, der die Trennung von Gott und Mensch durch sein Sterben überwunden hat. Das können und brauchen wir nicht nachzumachen. Oder um es so zu veranschaulichen: Das Amt des Hohepriesters ist eine Sonderaufgabe mit herausragender Verantwortung, die wir weder tragen können noch müssen. Wenn wir also über die Möglichkeiten unseres eigenen Handelns nachdenken, dann steht es immer unter dem Vorzeichen, dass es ein Nachmachen im besten Sinne ist, aber nie in der Vollkommenheit, in der Jesus Christus selbst gelebt hat. Sich dieses bewusst zu machen, das hilft denen, eigene innere Hürden zu überwinden, die einen zu hohen Maßstab an sich selbst anlegen, der nur noch mehr verunsichert. Ja, wenn wir etwa Mitgefühl zeigen, dann ist und bleibt es ein Zeichen - in aller Unvollkommenheit. Und das ist in Ordnung, und besser als taten- und sprachlos zu bleiben und gar nicht im Sinne Jesu Christi zu handeln.
Zum anderen: Jesus ist durch und durch sympathisch - im besten Wortsinne: Er fühlt mit, er leidet mit, weil er es selbst erlebt und erlitten hat. Er weiß somit auch, wie schwer es ist, sich auch seinen eigenen Schwächen und Ängsten zu stellen. Am Ende der Passionszeit, an Gründonnerstag und Karfreitag, werden wir wieder davon hören, wie er darum bittet, dass das Leiden von ihm abgewendet wird, wie er nur noch mit Worten der Psalmen ausdrücken kann, dass er sich von Gott verlassen fühlt. Jesus selbst ist es nicht leichtgefallen. Deshalb kann er mit uns mitfühlen, wenn wir uns schwertun.
Und schließlich der dritte Aspekt dieses Predigtabschnitts: Uns ist Hilfe zugesagt! Nicht erst, aber besonders dann, wenn wir nichts zu sagen oder zu tun wissen, dann bleibt uns die Möglichkeit des Gebets - ob mit eigenen Worten oder mit denen der Tradition: Mir sind nicht die Hände gebunden, ich kann sie falten - für mich selbst oder mit denen, die selbst dazu gerade nicht in der Lage sind. So können wir selbst schweigend mittragen, was sich in Worten nicht ausdrücken lässt. Wir dürfen dabei zuversichtlich sein, dass der uns hört und uns versteht, der auf dem Thron sitzt, weil er Leiden, Sterben und Tod überwunden hat. Das ist und bleibt unsere Hoffnung, dass wir seine Hilfe erleben werden.
Das Kreuz, auf das wir jetzt zugehen, ist das Symbol dafür, dass das Leben des Menschen kostbar und bedroht zugleich ist. Dass Gott bei allem Kleinen, allem Bedrängten, Zerbrochenem, Verachteten steht; immer beim Außenseiter, nicht bei dem, der obenauf ist. Dass Gott bei den Underdogs steht. Dass müssen übrigens nicht nur die Armen und Verfolgten sein. Dass kann ebenso der Schwule im Fußballclub sein, über den die anderen herziehen sein wie der ein Junge in der coolen linksliberalen Abiturklasse, der zur Bundeswehr gehen will. Und es kann der Gutsherr sein, der während der Revolution aus seinem Schloss verjagt und tot geschlagen wird, der an der Würde des Kreuzes teilhat und seine Verfolger, die sich historisch im Recht fühlen, sind die Erben der Knechte von Golgatha.
Das Kreuz zeigt, dass dieses Leben, auch wenn es zu scheitern droht, im Licht Gottes bleibt. Ein Licht, auf das wir zugehen, ein Licht bei dem wir nicht sagen müssen: mir wird kalt. Sondern das uns Mut und Lebenskraft gibt. Weil wir nicht allein und schwerelos unterwegs sind, sondern mit Menschen, die uns im Glauben verbunden sind. Und weil wir alle eingeladen sind von dem Gott, der unsere „feste Burg ist“. Denn „mit unserer Macht ist nichts getan“ (EG 362).
Amen.