(Predigttext: Röm. 11, 33-36 )
33 O welch eine Tiefe des Reichtums, beides, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege!
34 Denn »wer hat des Herrn Sinn erkannt, oder wer ist sein Ratgeber gewesen«? (Jesaja 40,13)
35 Oder »wer hat ihm etwas zuvor gegeben, dass Gott es ihm vergelten müsste«? (Hiob 41,3) 36 Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge. Ihm sei Ehre in Ewigkeit! Amen.
Liebe Gemeinde,
vermutlich kann man es am besten bei Kindern beobachten. Sie können es, ohne dass man es ihnen beibringen muss. Vermutlich kann man es auch gar nicht lehren. Sondern es stellt sich unmittelbar ein. So ist es jedenfalls bei den Erwachsenen. Wenn sie sich dazu zwingen, geht es meist schief. Es wirkt gekünstelt, nicht echt und authentisch. Vermutlich ist es deshalb auch nicht nur eine Tätigkeit, sondern eine Haltung. Man erkennt die Haltung daran, dass den Menschen der Mund offensteht und die Augen groß und größer werden. Es verschlägt ihnen die Sprache. Es füllt sie mit Dankbarkeit, Offenheit und Freude. Es befriedigt ihre Neugier.
Natürlich, ihr werde es längst erraten haben, geht es ums Staunen. Man könnte fast sagen, der Weg zu Gott führt zuallererst über dieses Staunen.
Erwachsene haben es schwerer zu staunen, weil sie zunächst einmal ihre Befangenheit überwinden müssen. Dem befangenen Erwachsenen stehen Erinnerungen, Kritik, Routine und die Meinung anderer Menschen im Weg. Alles schon einmal dagewesen! Das habe ich doch schon einmal gesehen! Gibt es im Fernsehen in viel schöneren und schärferen Farben. Alles schon längst gegoogelt.
Anders bei den Kindern: Sie staunen über alles. Staunen ist die Fähigkeit, die grauen Mauern der Routine zu durchbrechen und sich von Großartigem, Schönem, Bewundernswertem überraschen zu lassen. Wir erwachsen machen sie nur selten, vielleicht in ganz wenigen Augenblicken. Wenn man zum Beispiel das neugeborene eigene Kind oder Enkelkind in den Armen hält. Dankbarkeit und Staunen über das Wunder des Lebens stellt sich dann ein. Der Apostel Paulus hat offensichtlich von den Kindern gelernt: Er macht alle Anstrengungen, seinen Briefpartnern in Rom das Staunen über die Größe, Weisheit und Liebe Gottes neu nahe zu bringen. „O welch eine Tiefe des Reichtums, beides, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes!"
Allerdings, dieses Staunen, von dem Paulus schreibt ist nicht naiv, unbefangen. Das Staunen des Paulus ist vielmehr hart errungen. Paulus ringt dabei mit einer entscheidenden Frage. Sie lautet: Ist Gott treu seinen Verheißungen gegenüber? Und er spielt das in den Kapiteln 9 bis 11 durch an der Geschichte seines Volkes, des Volkes Israel. Kann Gottes Verheißungswort hinfällig werden, weil Israel nicht auf Gottes Wort hört, ja in Christus den Messias gerade nicht anerkennt? Für Paulus ist das nicht nur eine theologische, sondern eine ganz existentielle Frage. Denn es ist ja sein Volk und seine Geschichte, um die es geht. Man sieht das, wenn man die Kapitel einmal im Zusammenhang liest, daran, mit welcher Leidenschaft er sein Thema angeht. Er spricht von Traurigkeit, von Schmerzen, die ihm dieses Thema bereitet. Ja, er ist sogar bereit, sein eigenes Heil aufzugehen, wenn Gott nur auch dieses Israel, sein Volk rettet. Paulus kommt schließlich mit dem Herzen wie dem Verstand zu einer Art, die mehr eine Hoffnung des Glaubens ist. Vor Gott geht niemand verloren, jedes Leben, jedes Leid ist bei ihm aufgehoben. Und deshalb wird er seinen Verheißungen auch Israel gegenüber treu bleiben. Paulus wagt zu glauben, wenn alles Argumentieren – und das tut er zugleich reichlich – an sein Ende bzw. seine Grenzen gelangt ist.
Es ist diese Hoffnung, dieses Gegen-an-Glauben, das Paulus den Lobgesang anstimmen lässt, der heute unser Predigttext ist. Und so Paulus staunt Paulus über die Unbegreiflichkeit und die Unerforschlichkeit Gottes. Damit setzt er sich über die Gewohnheiten eines heutigen geläufig gewordenen Gottesbildes hinweg. Viele Menschen loben den liebenden, den Menschen zugewandten, den barmherzigen Gott und vergessen darüber seine dunklen, seine verborgenen, seine den Menschen abgewandten Seiten. Aus der Bibel lässt sich das nicht richtig begründen. Die Bibel redet vom liebenden und dem zornigen Gott. Dieser Gott offenbart sich und er verbirgt sich. Er zeigt sich den Menschen, und er entzieht sich ihnen. Er ist mal ganz nah, dann wieder unendlich fern. „Gott wohnt in einem Licht, dem keiner nahen kann“, so hat das Jochen Klepper aus seinen Anfechtungen im 20. Jahrhundert gedichtet. „Und doch bleibt er nicht ferne, ist jedem von uns nah“ (EG 379). Dieser Gott lässt sich nicht berechnen und nicht in seiner Tiefe durchschauen. Der Gott des Paulus ist in seiner Größe und Tiefe und Vielschichtigkeit einer einseitigen Betrachtung Gottes wohl haushoch überlegen.
Diese beiden Seiten der Gotteserfahrung, von der Paulus spricht, bevor zum Gotteslob ansetzt, ist wichtig. Wir sollten uns nicht darin täuschen und denken, dabei ginge es eben nur um Israel und das vor 2000 Jahren oder sei es ein akademisches Problem, das man den Theologen überlassen könne. Nein, hier geht es dem Grund nach auch um uns, heute, in Südafrika im Mai 2016. Tief in uns ringen wir mit den gleichen Fragen, mit dem Verstand und dem Herzen. Wir leben immer wieder in dieser Spannung vom nahen und fernen Gott. Manchmal zerreißt sie uns. Wir lieben dieses wunderbare Land, wir sind zum Teil seit vielen Generationen hier, wir sind Südafrikaner deutschen Ursprungs und wir wollen dieses Land mitgestalten, zu seinem Besten fördern. Wir wissen um die Geschichte, wir wissen um ihre Wunden – und wir wissen, dass wir nicht unbeteiligt daran waren, gewiss auch Schuld tragen. Aber wir wollen in diesem Land leben, in Frieden mit allen unseren Mitbürgern. Wir wollen, dass unsere Kinder hier eine Zukunft, dass sie unsere Fehler nicht wiederholen, dass die Wunden geheilt werden. Wir vertrauen darauf, dass der Gott der Liebe und dabei hilft, uns seinen Segen zuspricht.
Aber zugleich verstehen wir Gottes Wege nicht. Wir sehen das Leid, die Armut, wir sehen, wie uns die Gewalt zu schaffen macht. Wir sehen, dass unser Land wieder zu brennen beginnt. Und die Gewalt ist kein akademisches Problem, sondern wir hören und erleben sie. Keinen von uns lässt das kalt. Der Frust, die Enttäuschung, sie brechen sich Bahn und sie sind uns nicht fremd. In den letzten Tagen ist es vielen von uns wieder ganz nahegekommen. Die Angst, die damit verbunden ist, sie tut uns nicht gut. Sie muss raus, ausgesprochen werden. Zugleich dürfen wir aber nicht zulassen, dass sie uns auffrisst oder in Vorurteilen manifestiert, aus denen es kein Entkommen gibt. Das sehen wir ja auch zu genüge und ist auf keine Bevölkerungsgruppe beschränkt, wie Vorurteile, ja offener Rassismus das Klima vergiftet – oft noch befördert nicht durch Parteien, sondern auch diejenigen, die einen Eid auf die Verfassung abgelegt haben. Und dabei fragen, klagen, seufzen wir: warum Gott? Kann das nicht einmal aufhören? Wohin soll das noch führen?
Schmerzhaft werden wir so auch daran erinnert, was Glauben ist, nicht nur damals für Paulus, sondern heute für. Der Glaube ist nicht nur verobjektivierbar in Gesetzen, Verheißungen und Erlebnissen der Führung und Bewahrung. Sondern er ist oft ein Vertrauen, ein Wagen, ja ein Sprung ins Dunkle. Gerade die Geschichte des Volkes Israel lässt sich dann nicht nur als eine Geschichte der Verstockung, der Schuld lesen. Sie ist es auch, so wie unsere eigene Geschichte auch ist. Wir sind nicht unschuldig, können nur immer auf die anderen zeigen. Aber die Geschichte Israels – und unsere hoffentlich auch – ist ebenso eine Geschichte des Neubeginnens, des Neuglaubens, des Neuwagens. Es ist auch die Geschichte von Menschen, die ich nicht lassen können und wollen von ihrem Glauben und ihrem Gott, auch wenn sie seine Güte einmal nicht erkennen können, sondern seine Wege im Dunkeln und Verborgenen liegen. Es ist eine Geschichte auch des Gegen-an-Glaubens, wissend, dass ich nicht alle Fragen beantworten kann. Aber ich hoffe, dass vor Gott kein Leben umsonst, kein Mensch verloren, kein Tod nur sinnlos ist. Weil ich nicht nur die verborgene, sondern immer wieder auch die liebende Seite Gottes erfahren kann. Aber ich habe nie die eine ohne die andere Seite. Paulus glaubt dem unlösbaren Rätsel gegenüber, so wie es sieht, dass Gott dennoch Liebe und Erbarmen ist. Und so springt Paulus in Dunkel des Glaubens – und findet den liebenden und leiden Christus. Gott bleibt ihm Geheimnis der Welt, das er nicht ergründen kann, sondern dem er sich betend ohne alle Rückversicherungen hingibt und anvertraut.
Paulus stellt aber nicht einfach den Gott der Liebe, der sich in Christus bekannt gemacht hat, dem unbekannten, verborgenen, unerforschlichen Gott entgegen. Denn der Gott, der im Himmel ist, ist ja auf die Erde heruntergekommen. Er ist Mensch geworden. Die Gegenüberstellung Gott im Himmel - Mensch auf Erden hat Gott selbst in Jesus Christus überwunden. Gott hat sich als Mensch erkennbar gemacht und gezeigt. Und er hat demonstriert, dass seine Barmherzigkeit seinen Zorn übertrifft.
Wir feiern heute das Trinitatisfest, nach Weihnachten, Ostern und Pfingsten im Kirchenjahr das unbekannteste und am meisten unverstandene aller Festtage im christlichen Jahreskreis. Das Trinitatisfest ist ein Fest des Staunens, des Lobes und des Preisens. Es feiert den Gott, der den Menschen in Christus entgegenkommt. Es feiert keine Lehre, schon gar nicht die komplizierte und unüberschaubare Trinitätslehre; das bleibt weiter den Theologen überlassen. An Trinitatis steht Gott, nicht die Gotteslehre im Mittelpunkt - genauso wie an Pfingsten eher der Heilige Geist als der Geburtstag der Kirche im Mittelpunkt der Predigten und Gebete stehen sollte. An Trinitatis feiern wir im Gottesdienst den allmächtigen und barmherzigen Gott, den Gott, der nicht bei sich selbst blieb, sondern in einer langen Geschichte von der Schöpfung über den Auszug Israels aus Ägypten, die Rückkehr Israels aus dem Babylonischen Exil und das Leben und Denken, das Sterben und Auferstehen des Jesus von Nazareth die Nähe der Menschen suchte. Das ist kein unnahbarer, sondern ein beteiligter, engagierter und mit-leidender Gott. Deswegen verstehen wir Gott sozusagen dreifach: als Vater, als Sohn und als heiligen Geist. Gott bleibt nicht bei sich selbst, er wendet sich den Menschen zu, als Sohn, als Vater, als Geist.
Und es gibt nichts, wo dieser Gott nicht gegenwärtig wäre. Der entscheidende Satz in diesem Gebetshymnus des Paulus lautet: „Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge." Gott wird gelobt, weil er am Ursprung und am Ende alles menschlichen Lebens und der gesamten Schöpfung steht. In diesem hymnischen Satz liegt eine ungeheure Erleichterung. Denn sie soll einen Perspektivwechsel bringen, in dem ich neue innere Freiheit und neuen inneren Mut gewinne und einen neuen Blick auf mich selbst und mein Leben gewinne.
Dieser Glaube bleibt dennoch ein wagender Glaube – ohne alle Rätsel lösen zu können. Er glaubt und hofft gegen die harten Realitäten der Welt an. Dieser Glaube lebt vom Gebet, vom gemeinsamen Gotteslob und von der Bereitschaft zur Versöhnung. Ich denke, das ist heute für uns besonders wichtig. Deshalb beeindruckt mich eine Aktion, zu der verschiedene christliche Kirchen in diesen Tagen aufrufen. Viele von uns erinnern sich, wie unser Land 1976 brannte – und wie es heute wieder brennt. Als Christen können wir dabei nicht wegsehen und nichts tun. Deshalb rufen die großen christlichen Kirchen, aber auch die Veteranenvereinigung der ehemaligen SADF auf zu einer Zeit des persönlichen wie gemeinsamen Gebets unter dem Titel „Pray for South Africa. Reconciliation - Singing a new song“* zwischen dem 8. Mai und dem 16. Juni auf. Dazu gibt es einen sehr guten Gebetsführer mit kurzen Andachten und Gebetsvorschlägen, der von den Kirchen gemeinsam erarbeitet worden ist. Man kann das gut zum persönlichen wie gemeinschaftlichen Gebet nutzen. Höhepunkt der Gebetsaktion wird ein gemeinsamer Gottesdienst von Kirchen und Veteranen am 11. Juni im Orlanda-Stadium sein. Zu diesem Gottesdienst wollen wir gemeinsam mit der St. Petersgemeinde herzlich einladen. Wir werden einen Bus organisieren, so dass für alle, die Interesse haben, eine gemeinsame Anfahrt und Teilnahme möglich ist. Alles Weitere findet ihr im Johannesboten. Im Aufruf der Kirchen heißt es:
“We believe the time is right for the Church to take the lead and assist our country to heal. Let us move from fear, hatred and distrust to rebuilding the ruined walls, as in Nehemiah’s time, helping each other to overcome the past and walking in faith, believing that the King of Kings is still empowering us. Let us celebrate our shared identity in Christ and as fellow South Africans. Let us rejoice in our achievements attained by the grace of God, while expecting future accomplishments in line with our potential and the possibilities presented … as we serve one another to the benefit of all.
We cannot change, transform or heal ourselves. Only the Triune God can do that. But then we need to spend time with Him and allow Him to speak to us.”
Vielleicht ist es genau das, was wir jetzt tun können. Miteinander, füreinander beten, auch über die Grenzen der Kirchen und Kulturen hinweg. Nicht weil wir alles heilen könnten, sondern damit wir uns öffnen für den Gott, dessen Geist wir Pfingsten gefeiert haben. Und dann Stauen, was dieser Gott auch in unserem Land bewirken kann. Um dann in den Lob des Paulus miteinzustimmen: „Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge. Ihm sei Ehre in Ewigkeit! Amen.“
* Man kann diesen Text herunterladen unter:
- http://ngkerk.org.za/wp/wp-content/uploads/2013/05/40-Dae-Gebedsgids-Versoening.pdf (afrikaans) oder
- http://ngkerk.org.za/wp/wp-content/uploads/2013/05/40-Day-Prayer-Guide-for-Reconciliation.pdf (englisch).