(Predigttext: 1 Tim 1, 12-17)
Liebe Gemeinde!
Unsere Vergangenheit begleitet uns. Vergangenheit kann man nicht einfach abschütteln. Es gehört zu ihrem Wesen, dass sie nicht einfach vergeht. Natürlich, man kann sie umschreiben, unterdrücken, verdrängen oder einfach auch gemeinsam beschweigen. Aber sie kommt wieder, holt uns ein.
Das gilt für die Vergangenheit unseres eigenen Lebens ebenso wie für das gesellschaftliche Umfeld, in dem wir leben. Das Vergangene begleitet uns. Das ist nichts Schlechtes. Denn als Menschen haben wir eine Prägung und eine Vergangenheit. Ohne sie könnten wir nicht leben. Was wir getan, wie wir geprägt worden sind, das wirkt nach, im Guten wie im weniger Guten. Es wirkt auch dann noch, wenn es in unsrem Alltag wenig oder gar nicht präsent ist. Doch dann holt es uns ein, wenn wir durch Vorkommnisse, Gegenstände oder Personen an Vergangenes erinnert werden. Oder nachts, wenn wir träumen. Da kann das Vergangene ganz gegenwärtig sein – in süßen Erinnerungen, die wir beim Aufwachen nur ungern hergeben; aber auch in Alpträumen, die uns aus dem Schlaf hochschrecken lassen.
Das Vergangene begleitet uns, es vergeht nicht einfach. In der Rückschau können wir oft dankbar sehen, wieviel uns gelungen ist, in der Ausbildung, im Beruf, in der Familie, in unserem Engagement in Kirche und Gesellschaft. Aber da mag es auch manches geben, was wir im Nachhinein gerne ungeschehen machen möchten. Da sind die Wunden und Narben, die wir erhalten haben und die oft nur oberflächlich geheilt sind: ein Unglücksfall in der Familie, ein Streit, der uns nicht aus dem Sinn geht, auch nach vielen Jahre nicht, oder das Zerbrechen einer Beziehung, einer Ehe. Das vergeht nicht einfach, ist nicht einfach weg, auch wenn wir uns noch so Mühe gegeben.
Und natürlich sind da die Wunden, die wir anderen zugefügt haben. Da haben wir vielleicht in einer Situation überreagiert, in der wir besser ruhig und bedächtig geblieben wären. In einer anderen Situation haben wir dann aber geschwiegen. Dabei wäre ein klares und deutliches Wort angebracht gewesen! Manches erinnern wir noch, anderes haben wir längst vergessen, aber andere, die schmerzt es noch.
Aber auch die Kultur, die Sprache, die Religion, die Geschichte eines Landes, sie hinterlassen tiefe Spuren in uns. Für unser Land Südafrika gilt das gerade in diesen Tagen des Gedenkens an die Ereignisse vor 40 Jahren. Man merkt, wie auch diese Vergangenheit nachwirkt, wie schlecht man mit einfachen Lösungen mit ihr umgehen kann. Weder ein plattes „Die Weißen sind an allem schuld“ noch ein „Wir müssen das einfach hinter uns lassen und aufhören mit den alten Geschichten“ helfen hier weiter. Und erschweren kommt hinzu: wie ich Vergangenheit erlebe, wie ich sie deute, das hängt eben auch von meiner Perspektive, meinen Interessen und nicht zuletzt auch den Wunden ab, die mit dieser Vergangenheit verbinde. Schon wenn ich einen Streit in einer Familie verstehen will, gibt es verschiedene Perspektiven – und nur in ganz wenigen Fällen ist eine ganz richtig und die andere ganz falsch. Das macht ja die Schwierigkeit unseres Handelns und unserer Freiheit aus, dass wir oft nicht einfach zwischen gut und böse, sondern meistens zwischen größerem und kleinerem Übel zu unterscheiden haben.
Die Vergangenheit begleitet uns: Unsere eigene, die wir selbst zu verantworten haben - und die, die wir immer schon vorfinden. Mit dem Vergangenen umgehen zu lernen ist eine der wiederkehrenden Aufgaben unseres Lebens. Das gilt selbst für jene Vergangenheit, die positiv nachwirkt. Auch ein Erbe will recht angetreten und verwaltet, gar gemehrt sein. Wie man unter diesen Umständen mit Vergangenheit umgehen kann, das ist auch Thema dieses Predigttextes aus dem 1. Timotheusbrief. Man könnte ihn überschreiben mit „Vom Umgang mit einer schwierigen Vergangenheit.“ Die Lutherbibel jedoch schreibt darüber „Lobpreis der göttlichen Barmherzigkeit“. Warum werden wir noch sehen.
12 Ich danke unserm Herrn Christus Jesus, der mich stark gemacht und für treu erachtet hat und in das Amt eingesetzt,
13 mich, der ich früher ein Lästerer und ein Verfolger und ein Frevler war; aber mir ist Barmherzigkeit widerfahren, denn ich habe es unwissend getan, im Unglauben.
14 Es ist aber desto reicher geworden die Gnade unseres Herrn samt dem Glauben und der Liebe, die in Christus Jesus ist.
15 Das ist gewisslich wahr und ein Wort, des Glaubens wert, dass Christus Jesus in die Welt gekommen ist, die Sünder selig zu machen, unter denen ich der erste bin.
16 Aber darum ist mir Barmherzigkeit widerfahren, dass Christus Jesus an mir als Erstem alle Geduld erweise, zum Vorbild denen, die an ihn glauben sollten zum ewigen Leben.
17 Aber Gott, dem ewigen König, dem Unvergänglichen und Unsichtbaren, der allein Gott ist, sei Ehre und Preis in Ewigkeit! Amen.
Wir erinnern uns: Nach dem Tod Jesu hatte Paulus dessen Anhänger verfolgt und ihnen nach dem Leben getrachtet. Vor Damaskus aber war ihm der Auferstandene erschienen und hatte ihn gefragt: „Saul, Saul, was verfolgst du mich?“ Saulus war dann drei Tage lang blind. Die Begegnung mit dem gläubigen Jesusanhänger Hananias öffnete Paulus die Augen. Saulus ließ sich taufen. Aus Saulus wurde Paulus. Der Schreiber des Timotheusbriefes greift dieses Damaskuserlebnis des Völkermissionars auf, indem er schreibt: „Ich danke unserm Herrn Christus Jesus, der mich stark gemacht und für treu erachtet hat und in das Amt eingesetzt, mich, der ich früher ein Lästerer und Frevler war; aber mir ist Barmherzigkeit widerfahren, denn ich habe es unwissend getan, im Unglauben.“
Von einer schuldbeladenen Vergangenheit befreit zu werden ist also ein Akt der Gnade und Barmherzigkeit Gottes. Sie ist ein Akt dessen, der zu jedem und jeder, der und die ihm folgen will, sagt: „Du und deine Verfehlungen in der Vergangenheit – sie gehören nicht mehr zusammen. Du bist frei von den Ketten, die du dir mit deinen Taten in der Vergangenheit selbst geschmiedet und dann umgehängt hast!“ Allerdings, das hat Konsequenzen. Paulus macht ja nicht einfach weiter mit seinem Leben. Zur Vergebung gehört auch die Umkehr. Beim ihm ist sie mit seinem Leben besonders deutlich. Und vermutlich war sie auch nötig, auch um der Glaubwürdigkeit seines eigenen Auftrages willen. Denn Paulus wurde seine Vergangenheit vorgehalten, nicht zuletzt von manchen der anderen Apostel. Er konnte gar nicht so tun, als sei da nichts gewesen.
Wie dem auch sein, eine Art von Bereitschaft zu Wiedergutmachung, zur Umkehr, setzt das Sich-Lösen von einer auch als schuldhaft erfahrenen Vergangenheit voraus. Entscheidend ist hier, dass es ein Vorher und ein Nachher gibt. Wenn Jesus in das Leben eines Menschen tritt, ist dieses Leben ein anderes als zuvor. Jesus begegnet Paulus vor Damaskus. Das verändert sei Leben. So wird aus dem Verfolger der Verkünder. Es geschieht immer wieder, dass Jesus in das Leben von Menschen tritt: durch ein Wort der Heiligen Schrift, durch die Hilfe eines Nächsten, durch eine Erfahrung, die einem die Augen für die Kraft Gottes öffnet. Diese Menschen werden dann für andere, so wie Paulus, zum Vorbild. Freilich muss eine Bekehrung nicht immer so spektakulär von statten gehen wie bei Paulus. In ein verändertes Leben kann man auch allmählich hineinwachsen.
Das Vergangene begleitet uns. Unsere Fehler können uns an die Vergangenheit fesseln. Davon frei zu werden, wird einem in der Begegnung mit dem lebendigen Gott gegeben. Man kann dieser Begegnung aus dem Weg gehen, man kann sie vermeiden. Man kann, das wäre für Paulus ja eine Möglichkeit gewesen, für die notwendigen Veränderungen blind bleiben. Man kann sich in einer entscheidenden Begegnung aber auch die Augen öffnen lassen und sein Leben neu ausrichten.
Paulus nennt das Barmherzigkeit, die ihm widerfahren ist. Nach menschlichen Maßstäben wäre das nicht möglich gewesen. Denn wir trennen oft nicht zwischen Person und Werk. Wir rufen nach Belohnung oder nach Bestrafung und Vergeltung. Das Recht, auch der Sinn für Gerechtigkeit nach unseren Maßstäben, hätte ein anders Urteil erwartet. Und an den Händen des Paulus klebte ja nicht zuletzt das Blut derer, die er verfolgt hatte – und im Urteil vieler Menschen konnte selbst seine Bekehrung dieses Blut nicht abwaschen. Paulus ist sich also bewusst, dass er Barmherzigkeit erfahren hat, dass ihm etwas geschenkt wurde. Es hätte auch ganz anders kommen können. Paulus wird das immer wieder auch vor Augen gestanden haben.
Es hätte auch ganz anders kommen können – bei allen Schwierigkeiten heute in unserem Land, bei allem, was zu beklagen ist, müssen wir uns das auch vor Augen halten. Es hätte anders kommen können zwischen 1990 und 1994? Wer hätte gedacht, dass nach allen den Verwundungen, all den Traumata der Vergangenheit, dieser insgesamt doch friedliche Weg es Übergangs überhaupt möglich sein könnte? Uns ist gewiss Barmherzigkeit widerfahren – uns allen, die wir, egal zu welcher Gruppe wir gehören, die hier in Südafrika leben. Aber haben wir alle die Chancen genutzt, haben wir unser Leben so geändert, dass wir – bei aller Schwierigkeit – auch weiter Gottes Barmherzigkeit loben können. Dazu würde jedenfalls auch gehören, dass wir uns unsere Ängste, unsere Wunden aber auch unsere Schuld bekennen und erzählen – übrigens ohne befürchten zu müssen, dass sie politisch instrumentalisiert und für irgendwelche gleich für irgendwelche Verteilungsdebatten instrumentalisiert werden.
Wenn wir das könnten, unsere Angst, unseren Wunden, auch unsere Schuld einander in diesem Land zu erzählen, wirklich zu erzählen, dann könnte uns das vielleicht die Augen öffnen. Wir würden – auch schmerzhaft – erkennen, wie verletzt wir sind. Ja, wir sind nichts Ganzes, nichts Fertiges, wir sind Fragmente, Ruinen eines vielleicht einmal ganz gedachten Bauwerkes.
Aber wir sind dann nicht mehr nur Fragment aus Vergangenheit. Sondern in dieser Erkenntnis unserer selbst liegt auch unsere Zukunft. Denn Fragmente weisen auch über sich selbst hinaus. Fragment leben in der Spannung zu der Ganzheit, der Vollkommenheit, sie sie sein könnten, aber noch nicht sind. Die Ruine oder das Torso, das wir sind, wartet auf die Vollendung, ein Vollendung, die nicht aus uns selbst kommen kann, eine Vollendung, die wir im Glauben ahnen, aber nie selbst erreichen können.
Genau setzt der Lobpreis, das Staunen, der Glaube ein. Vermutlich deshalb steht in der Lutherbibel „Lobpreis der göttlichen Gnade“ über diesem Abschnitt aus dem Timotheusbrief – und nicht „Vom Umgang mit einer schwierigen Vergangenheit“.
Und dieser Lobpreis, er lebt von einer schwierigen, einer schmerzhaften, aber ebenso befreienden Erfahrung, von der man auch betend singen kann: „Mir ist Erbarmung widerfahren, Erbarmung, deren ich nicht wert, das zähl ich zu dem Wunderbaren, mein stolzes Herz hat*s nie begehrt. Nun weiß ich das und bin erfreut und rühme die Barmherzigkeit.“
Amen.