(Predigttext: Phil 3, 7-14)
7 Aber was mir Gewinn war, das habe ich um Christi willen für Schaden erachtet.
8 Ja, ich erachte es noch alles für Schaden gegenüber der überschwänglichen Erkenntnis Christi Jesu, meines Herrn. Um seinetwillen ist mir das alles ein Schaden geworden, und ich erachte es für Dreck, damit ich Christus gewinne
9 und in ihm gefunden werde, dass ich nicht habe meine Gerechtigkeit, die aus dem Gesetz kommt, sondern die durch den Glauben an Christus kommt, nämlich die Gerechtigkeit, die von Gott dem Glauben zugerechnet wird.
10 Ihn möchte ich erkennen und die Kraft seiner Auferstehung und die Gemeinschaft seiner Leiden und so seinem Tode gleich gestaltet werden,
11 damit ich gelange zur Auferstehung von den Toten.
12 Nicht, dass ich's schon ergriffen habe oder schon vollkommen sei; ich jage ihm aber nach, ob ich's wohl ergreifen könnte, weil ich von Christus Jesus ergriffen bin.
13 Meine Brüder, ich schätze mich selbst noch nicht so ein, dass ich's ergriffen habe. Eins aber sage ich: Ich vergesse, was dahinten ist, und strecke mich aus nach dem, was da vorne ist,
14 und jage nach dem vorgesteckten Ziel, dem Siegespreis der himmlischen Berufung Gottes in Christus Jesus.
Liebe Gemeinde!
Heute sind es noch genau 12 Tage. Dann geht es los, dann beginnen die Olympischen Sommerspiele in Rio de Janeiro in Brasilien. Ihn ihren Ursprüngen geht die olympische Idee bekanntlich auf die Griechen zurück. Alle vier Jahre sollten die besten und tapfersten Athleten der griechischen Stadtstaaten am Berg Olymp, wo angeblich die Götter wohnten, zusammenkommen. Es ging übrigens nicht nur um Wettkampf und Ehre. Die Spiele hatten auch politische Bedeutung. Denn während der Spiele – so wollte es ein eigentlich von alle anerkanntes Gesetz – hatte Frieden zu herrschen zwischen den griechischen Städten, die sich eigentlich ständig mit kleineren oder größeren Kriegszügen überzogen. Insofern war Olympia ein friedlicher Wettkampf auch um Anerkennung und Prestige des jeweiligen Stadtstaates – und in einer im Gegensatz zum Krieg höchst unblutigen und damit äußerst sympathischen Variante.
Mit dem Frieden während der Spiele ist es dann in der Neuzeit nichts geworden: 1916, 1940 und 1944 fielen die Spiele den Weltkriegen zum Opfer. Aber der Gedanke des Wettbewerbs zwischen den Nationen ist geblieben – ist scheint immer noch wichtig zu sein, welchen Rang das eigene Land im Medaillenspiegel erreicht – so wichtig, dass manchmal sogar der Betrug in Form des Dopings sogar staatlich gefördert wird.
Und natürlich werden Helden geboren. Mancher Sportler wird neu entdeckt, plötzlich zum Liebling des Publikums. Manche werden Weltstars, eilen von Spielen und Spielen zum Erfolg. Für sie sind die Spiele der große Durchbruch, es gibt ein vorher und ein nachher, einen tiefen Einschnitt in der Biographie. Und manche werden mit dem einmal gewonnenen Ruhm nicht fertig, stürzen ab und werden von gefeierten Helden zu verurteilten Schurken.
Ich finde es spannend, das Paulus – der Apostel – ausgerechnet ein Bild von den olympischen Spielen benutzt, um sich im Brief an die Philipper über sein eigenes vorher und nachher, seine Lebenswende zu äußern.
Das ist deshalb spannend, weil die ersten Christen dem Körperkult und dem Sport ihrer Zeit ziemlich ablehnend gegenüber standen. Denn der Sport – und Olympia erst recht – war untrennbar mit dem alten Götterkult verbunden. Paulus, der manchmal auch ziemlich wettern konnte, ist an dieser Stelle sympathisch entspannt. Offensichtlich weiß er kein besseres Bild – für seine eigene Lebenserfahrung, aber auch, um sich anderen verständlich zu machen – als das ein Läufers, der in der Rennbahn nicht nur dem Ziel an sich, sondern auch dem Sieg hinterherjagt – in der Antike waren das meistens eben schlichte Lorbeerkränze und seltener lukrative Werbeverträge. Und um das zu schaffen, so Paulus, bedarf es äußerster Anstrengung und Konzentration. Wer ständig ängstlich nach hinten schaut, um zu sehen, wo die anderen sind, gerät leicht ins Straucheln und fällt vielleicht sogar über die eigenen Beine. Paulus weiß also ziemlich genau, was er will, wohin er will oder genauer: zu wem er will.
Und damit bin ich beim zweiten Teil des Bildes. Offensichtlich ist da etwas, das Paulus hinter sich lassen will. Das macht er ziemlich klar deutlich. Luther übersetzt das eher freundlich, wenn er das so verdeutscht: „Was mir Gewinn war, habe ich um Christi willen für Schaden erachtet.“ Man könnte hier auf jeden Fall auch Dreck übersetzen, um andere, weniger anständige Worte zu vermeiden.
Natürlich spricht Paulus damit seine eigene Lebenswende an, die bekanntlich ziemlich radikal war: er, der fromme, gesetzestreue Jude, ein Verfolger der ersten Christen, wird zu dessen bedeutendstem Missionar – deutlicher kann eine Lebenswende nicht ausfallen.
Für Paulus gab es ein klares vorher und nachher, eine Lebenswende, die einschneidender nicht sein könnte.
Dabei hatte er ein durchaus erfolgreiches Leben gehabt, jedenfalls nach den Maßstäben der Welt: die richtige Herkunft, die richtige Ausbildung und dann auch in allem, was man damals für einen frommen Juden erwartete, die richtige Gesinnung, verbunden mit der Bereitschaft, diese auch in der Tat zu bezeugen.
Wir wissen nicht genau, was in Paulus damals vorgegangen ist. Wir wissen nur, dass es da diese Wende, dieses Damaskuserlebnis gab, mit dem alle seine Werte auf einmal umgewertet wurden. Im Rückblick jedenfalls scheint das vormals so Wertvolle ganz wertlos.
Freilich, ein wenig kommt einem dieses rigorose vorher nachher auch etwas verdächtig vor. Wir allen haben unsere Auseinandersetzungen und Brüche, die unser Leben bestimmen. Aber so radikale Lebenswenden, ja Abbrüche sind uns fremd und oft mit guten Gründen suspekt. Wir kennen ja durchaus Fälle, wo solche plötzlichen Lebenswenden höchst problematisch sind. Wir kennen es in diesen Tagen etwa von den erschreckenden Nachrichten über die Lebenswende mancher dieser islamistischen Selbstmordattentäter, die auf merkwürdige und oft erschreckende Weise radikalisiert werden.
Und doch ist es bei ihnen ganz anders. Nach allem, was man liest, sind das häufig junge Leute, die früh gescheitert sind. Junge Männer ohne Schulabschluss. Ohne berufliche Perspektive. Oft in den Ghettos der europäischen Städte aufgewachsen. Nicht anerkannt von der alteingesessenen Bevölkerung.
In ihnen bohrt die Sehnsucht nach einem Neuanfang. Der Wunsch nach Erfolg und Berühmtheit. Unerfüllte sexuelle Bedürfnisse oder die Sehnsucht, selber mal das Oberhaupt einer Familie zu werden, das bestimmen kann, wo es lang geht. Für viele von diesen Jugendlichen ist der Kampfeinsatz in Syrien eine Spielart des ewigen „vorher – nachher“.
Vorher perspektivlos – nachher ein Held.
Vorher ein Niemand – nachher einer, von dem man spricht.
Vorher voller brodelnder Aggressionen – nachher einer, der weiß, wie es ist: zuzuschlagen und abzudrücken.
Sie versuchen, den eigenen Frust dadurch zu überwinden, dass sie etwas tun wollen, womit sie groß rauskommen. Sie haben sich einreden lassen, dass ihnen das als Kämpfer und Märtyrer gelingen wird.
Bei Paulus ist das ganz anders. Es geht ihm um einen Perspektivwechsel des Lebens, der ihn nicht nur zu sich selbst, sondern zu Gott hin befreit. Der Glaube stellt die Dinge auf den Kopf. Was vorher unendlich wichtig war, verliert seinen Wert. Und es geht nicht mehr um Selbsterfüllung. Sondern um das, was Paulus gleichgestaltet mit Christus nennt. Er schreibt: „Ihn möchte ich erkennen und die Kraft seiner Auferstehung und die Gemeinschaft seiner Leiden und so seinem Tod gleichgestaltet werden, damit ich gelange zur Auferstehung von den Toten.“ Das bedeutet immer auch, im Leid des anderen das Leiden Christi wieder zu sehen. Es bedeutet sich, der Welt und ihrem Leid zu stellen, nicht es noch schlimmer zu machen. Vielleicht war es das, was Paulus in seiner Lebenswende erkannt hat, das es seinem Kampf als Christenverfolger gar nicht so sehr um das Gesetz, die Torah seiner jüdischen Herkunftsreligion ging, sondern doch aus sehr um seine Interpretation des Gesetzes und um seinen Wahn, nur er könne durch sein Wirken dieses Gesetz vor dem Untergang bewahren? Was es so vielleicht v.a. seine Selbstüberhebung, seine Selbstüberschätzung, die ihm auf einmal klar wurde? Dann wäre seine Perspektivwechsel gewiss eine Befreiung gewesen. Dann wäre es die Erfahrung gewesen, das im Kreuz diese Selbstüberschätzung, diese Selbstüberhebung ein Ende gefunden hat. Denn wäre es das Kreuz Jesu, in der ich mit meiner Schuld und meiner Selbstüberschätzung konfrontiert werde und in der Paulus, in der mir klar wird, was Paul Gerhardt gedichtet hat: „Nun was du Herr, erduldet, ist alles meine Last. Ich habe es selbst verschuldet, was du getragen hast.“ (EG 85,4).
Dieser Perspektivwechsel ist also – so sehr er sich nach außen dann auch zeigt – ein inneres Geschehen. Meine Gerechtigkeit, schreibt Paulus, habe ich nicht aus mir selbst, sondern aus Gott. Man könnte das auch so übersetzen: das, was mein Leben wertvoll macht, ist nicht das Ergebnis meiner eigenen Anstrengungen und Bemühungen, so wichtig und sinnvoll sie auch sein mögen. Sondern mein Wert liegt darin, dass ich mich selber getragen und angenommen weiß. Ich muss mein Heil nicht aus mir selbst heraus suchen, sondern kann es empfangen. Paulus nennt das Anteil haben an Jesus selbst, an seiner Verlassenheit im Kreuz und seiner Aufnahme bei Gott im Licht der Auferstehung. Es ist das, was uns in der Taufe zugesagt ist.
Der christliche Glaube ist dabei kein Wunscherfüllungsautomat. Er ist kein Rezept, um noch reicher, schöner und berühmter zu werden. Mit ihm kann man nicht die Erfolge erlangen, nach denen man sich immer schon gesehnt hat. Und auch keine 72 Jungfrauen im Paradies.
Der Glaube stellt die Sehnsüchte auf den Kopf. Was vorher unverzichtbar erschien, wird plötzlich relativ. Weil etwas anderes für mich wichtig geworden ist. Mein Glaube sagt mir, dass andere Dinge zählen.
Mit Christus gleichgestalte zu sein, ihm nachzujagen heißt dann auch: von ihm kann ich lernen, was wirklich zählt: Für andere da zu sein. Zu den Menschen zu gehen, die ausgegrenzt sind. Liebevoll auf die zu gucken, für die es nie ein „vorher – nachher“ geben wird. Weil sie aufgrund ihrer Krankheiten oder ihrer Behinderungen keine Chance auf eine grundsätzliche Veränderung haben. Kurz gesagt: Von Christus können wir lernen, fürsorglich auf andere zu blicken. Anstatt immer nur unseren eigenen verpassten Chancen hinterher zu trauern.
Und was ist mit dem vorher nachher? Ich werde mein Leben wohl nicht so umgestalten wie Paulus. Ich werde auch kein Gold bei Olympia gewinnen, nicht in diesem Jahr und wohl auch nicht in vier oder acht Jahren. Und ich werde es wohl auch nicht schaffen, ein perfekter Christ zu sein.
Das muss ich aber auch nicht. Denn drehe ich mich doch letztlich nur um mich selbst, um mein Leben, meine Frömmigkeit, mein Heil. Paulus jedenfalls beschreibt es anders: Nicht, dass ich's schon ergriffen habe oder schon vollkommen sei; ich jage ihm aber nach, ob ich's wohl ergreifen könnte, weil ich von Christus Jesus ergriffen bin.
Ich kann mich also auf den Weg machen, ihm nachzujagen. Und ich kann es deshalb, weil ich spätestens mit der Taufe eigentlich schon zu ihm gehöre.
Amen.