(Predigttext: Röm 14, 17-19)
Liebe Gemeinde!
Könnt ihr euch an eine Abendmahlsfeier erinnern, die euch besonders berührt hat? Eine, bei der ein Stück Himmel spürbar wurde, mitten auf der Erde? Mancher denkt an Feiern des Abendmahls bei einem Studientag, bei einer Tagung oder auf dem Kailager. Andere erfahren es am Sterbebett eines lieben Verwandten - Brot des Lebens im Angesicht des Todes. Momente sind das, in denen die Grenzen zwischen Menschen ins Schwimmen geraten, in denen erlebbar wird, was es heißen kann, zur Gemeinde, zum Leib Christi zu gehören.
Ich erinnere mich gut an eine solche Feier. Es war auf einer Rüstzeit zu Silvester 1989/90. Das war das Jahr der Wende und ich war mit einer kleinen Jugendgruppe eingeladen zur Rüstzeit in Nordhausen in Thüringen. Die Mauer war einige Woche vorher gefallen und auch seit Dezember 89 konnten auch Westdeutsche ohne Papiere und Visa in die DDR einreisen. Unser Pastor hatte schon seit vielen Jahren Kontakt zu einem Kollegen in Nordhausen, und so fuhren wir. Wir waren 3 oder vier Westdeutsche, sonst etwa 30 Jugendliche und Studenten aus der DDR, einige aus Pfarrersfamilien. Etliche hatten Nachteile und Diskriminierung erlebt, einer war Bausoldat bei der NVA – das musste man für der drei Jahre machen, wenn man den Dienst an der Waffe verweigerte. Die Stadt selber war ziemlich runtergekommen, wie überall im Winter roch es nach Braunkohle, es war, wenn man über die Grenze fuhr, wirklich wie in einem anderen Land. Aber trotz aller Unterschiede und anderer Erfahrungen wuchsen wir in den Tagen schnell zu einer Gemeinschaft zusammen. Der Höhepunkt war das Abendmahl in der Silvesternacht. Ich glaube, ich habe das erste Mal verstanden, was für eine Tiefe von dieser Feier ausgeht. Jeder bekam zudem ein Bibelwort zugesagt. Meins war eins aus dem 2 Kor 5: „Ist jemand in Christus, ist er eine neue Kreatur.“ Ja, das konnte man da spüren, wie das Mahl und die Gemeinschaft einen verwandeln kann und zugleich Gemeinschaft schenkt. Das hat sich mir eingeprägt.
Ich glaube, das spürten alle damals: Hier wird etwas von dem spürbar, was Jesus von Nazareth immer wieder gepredigt und vorgelebt hat, wenn er mit den Ausgestoßenen und Verachteten zu Tisch saß: Gottes Reich - mitten unter uns. Essen und Trinken als Zeichen des Lebens. Vor dieser Erfahrung mag unser Predigttext für heute erst einmal etwas verwunderlich vorkommen.
17 Denn das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken, sondern Gerechtigkeit und Friede und Freude in dem Heiligen Geist. 18 Wer darin Christus dient, der ist Gott wohlgefällig und bei den Menschen geachtet. 19 Darum lasst uns dem nachstreben, was zum Frieden dient und zur Erbauung untereinander.
Das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken? Andererseits: Essen und Trinken kann ausgrenzen. Das spürt das Schulkind, das die Eltern ohne Frühstück losgeschickt haben, wenn die anderen ihre liebevoll vorbereiteten Brote auspacken. Und wir wissen es leider auch leidvoll aus der Geschichte der Kirchen, dass noch immer nicht alle Getauften, egal welcher Kirche sie angehören, dieses Mahl gemeinsam feiern können, aus welchen Gründen auch immer. Das schmerzt, gerade wenn der Riss hier durch die Familien hindurchgeht.
Von Ausgrenzung am gemeinsamen Tisch handelt unser Text aus dem Römerbrief. Dort ging das gemeinsame Essen gründlich schief. Zwei Gruppen gab es dort, die Paulus die „Schwachen" und die „Starken" nennt. Man könnte, bei aller Vorsicht, auch von den Konservativen und Liberalen, den Bewahrern und den Fortschrittlichen sprechen. Die Schwachen aßen kein Fleisch und machten um Alkohol einen großen Bogen. Beides war damals eng mit dem römischen Tempelkult verbunden, was es an Fleisch zu kaufen gab, war im Tempel geopfert worden. Mit diesem heidnischen Betrieb und seiner Götzenverehrung wollten besonders Christen, die aus dem Judentum stammten und mit dessen Speisevorschriften groß geworden waren, nichts zu tun haben - sie wären sonst in Gewissensnöte gekommen. Sie hingen an ihren traditionellen Regeln und der gewohnten Praxis ihres Glaubens. Sie fanden darin ihre geistliche Heimat.
Die Starken sahen das ganz anders. Wir wissen doch, so ihr Argument, dass es nur einen Gott und nicht viele Götter gibt. Also kann an Fleisch und Wein nichts Götzenhaftes sein, schließlich gibt es all diese römischen Gottheiten überhaupt nicht. Christen können folglich mit Freude all das genießen, was Gott mit seiner Schöpfung schenkt. Christus hat uns vom Gesetz befreit - also können wir diese Freiheit auch genießen. Wir können ganz neue Wege gehen, das Alte, Überkommene hinter uns lassen. Dieser Konflikt kochte schnell hoch und untergrub den Zusammenhalt der Gemeinde. Die Starken lachten über die Skrupel und die Ängste der Schwachen und nutzten wohl auch gern die Gelegenheit, sie zu provozieren - etwa, indem sie am gemeinsamen Tisch Wein und Fleisch servierten. Und die Schwachen sprachen denjenigen, die so locker mit Essen und Trinken umgingen, schlicht das Christsein ab und waren stolz auf die eigene Glaubensstrenge. Das gab Halt und Selbstbewusstsein.
In diesem Streit versucht Paulus zu schlichten. Er macht es sehr geschickt, sehr seelsorgerlich, obwohl er selbst zweifellos einer Seite zuneigte. Paulus stand theologisch den Starken näher. Auch für ihn war die Zeit der Speisevorschriften mit Jesus Christus an ihr Ende gekommen. In der Sache, so Paulus, hatten die Starken Recht. Nur: Ums Recht-Haben geht es hier nicht. Es geht nicht darum, die eigene Überlegenheit im Denken oder Glauben stolz zu präsentieren und die anderen damit niederzumachen. Es geht nicht darum, sich zum Richter über den anderen aufzuschwingen. So kommt Paulus zu diesem Satz, bei dem man sich gut vorstellen kann, wie dem Apostel der Kragen platzt: „Das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken!" Man könnte auch übersetzen: Gottes Herrschaft hängt nicht am Essen und Trinken. Sie lebt davon, dass ihr gerecht miteinander umgeht, Frieden haltet und Freude ausstrahlt, die von Gottes Geist kommt. Kurz: Gottes Herrschaft wird sichtbar, wenn ihr einander in Liebe begegnet – auch über eure unterschiedlichen Stile, Prägungen und theologischen Überzeugungen hinweg.
Die Christen in Rom hatten sich so in ihren Streit um Essen und Trinken verbissen, dass ihnen die Liebe schlichtweg abhandengekommen war. Sie richteten übereinander, anstatt sich gegenseitig anzunehmen. Von Gerechtigkeit, Frieden und Freude keine Spur. Paulus richtete die Gemeinde in Rom neu auf dieses Ziel aus. Dafür nahm er zunächst die Starken in den Blick, die ihre neu gewonnene Freiheit ohne Rücksicht auf Verluste auslebten. Ihr habt Recht, sagte er ihnen, an Fleisch und Wein ist nichts, was dem Glauben widersprechen würde. Aber: „Wenn dein Bruder wegen deiner Speise betrübt wird, so handelst du nicht mehr nach der Liebe." Denn du treibst ihn in die Gewissensnöte - und die Gemeinde in die Spaltung.
Debatten um Opferfleisch und Wein sind unsere Sache heute nicht mehr. Die Frage, wie Christen miteinander umgehen, hat aber nichts von ihrer Brisanz verloren. Auch Kirchen und Gemeinden leben in der noch nicht erlösten Welt, in der es manchmal um vermeintliche Kleinigkeiten zu schwersten Konflikten kommt. Aber es kann genauso um die Praxis des Abendmahls oder ethische Fragen gehen, wo plötzlich ganz viel auf dem Spiel steht. Wenn solche Fragen auf der Tagesordnung stehen, folgt oft der Streit. Dann liegen sich Bewahrer und Modernisierer, Konservative und Liberale in den Haaren, dann ringen Alte und Junge, Alteingesessene und Zugezogene, und schnell geht ein Riss durch die Gemeinde - wie in Rom.
Paulus gibt uns für unsere Konflikte keine einfachen Lösungen an die Hand. Er richtet uns neu auf das Zentrum, die Mitte unseres Glaubens aus: Jesus Christus, die Mensch gewordene Liebe Gottes. Er ist es, der jeden Einzelnen in der Gemeinde liebevoll angenommen hat, er ist es, der jeden Einzelnen von dem Wahn erlöst, sich durch das eigene Handeln, Denken und Glauben die Nähe Gottes verdienen zu können. Er hat für jeden Einzelnen gelebt, ist gestorben und auferstanden. Und hat es damit erst möglich gemacht, dass wir das Gebot der Liebe in den Alltag umsetzen, Gott lieben und unseren Nächsten wie uns selbst.
Das hört sich vertraut an, ist aber gerade in solchen Situationen wichtig. Denn das Gebot der Liebe verschiebt die Blickrichtung. Es schickt uns in die Schule der Toleranz. Es mutet uns immer wieder neu zu, zu begreifen: Gerade dieser andere dort, mit seinen dünnen Argumenten und seinem zweifelhaften Geschmack, seinen merkwürdigen Ideen und seinem mangelnden Respekt vor der Tradition - gerade dieser andere ist dein Bruder, deine Schwester! In Christus gehörten wir zu einer Familie, und die kann man sich nicht aussuchen. Aber man kann immer neu lernen, in dieser Familie einander auszuhalten - über Unterschiede und Konflikte hinweg.
Diese Neuausrichtung auf Christus hin mutet uns zu, immer neu nach Kompromissen zu suchen. Sie versagt uns, als Richter des anderen aufzutreten. Sie kann bedeuten, dass wir die eigene Überzeugung um der Gemeinschaft willen zurückstellen und nicht Prinzipien auf Biegen und Brechen durchsetzen. Sie traut uns zu, nach Formen des Zusammenlebens zu suchen, die tragfähig sind über Grenzen hinweg - so mühsam das im konkreten Fall auch ist. Wenn das gelingt, dann kann gerade das Essen und Trinken zum Zeichen des Reiches Gottes werden. Es sollte es uns verbinden mit allen, die durch die Taufe zu Christus gehören, und gerade nicht Merkmal einer Trennung sein.
Verschiedenheit, Vielfalt auch der Standpunkte und Überzeugungen, ist keine Last, sondern ein Reichtum. Bei allen Unterschieden kann dieser Reichtum dann an wirklich einer Stelle auch sichtbar werden, an dem die Verschiedenheiten nicht trennend werden sollten. Das ist, so hat Jesus es verstanden, das Abendmahl. Da geht es nicht um Theologie, nicht um reine Lehre, sondern um sein Gedächtnis. Da geht es nicht im Rechthaben, sondern darum, offen zu sein für Christus selbst.
Da geht es, bei allen Unterschieden, darum etwas zu spüren von dem, was das Reich Gottes ausmacht und erfüllt: Gerechtigkeit und Friede und Freude in dem heiligen Geist. Damit wir gestärkt in unsere Welt hinausgehen, und das singen und bekennen können: „Wie schön ist es zu leben, und Gottes Kind zu sein“ (EG 641, 5).
Amen.