(Predigttext: Lk 23, 33-49)
Und als sie kamen an die Stätte, die da heißt Schädelstätte, kreuzigten sie ihn dort und die Übeltäter mit ihm, einen zur Rechten und einen zur Linken.
34 [Jesus aber sprach: Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun!] Und sie verteilten seine Kleider und warfen das Los darum.
35 Und das Volk stand da und sah zu. Aber die Oberen spotteten und sprachen: Er hat andern geholfen; er helfe sich selber, ist er der Christus, der Auserwählte Gottes.
36 Es verspotteten ihn auch die Soldaten, traten herzu und brachten ihm Essig
37 und sprachen: Bist du der Juden König, so hilf dir selber! 38 Es war aber über ihm auch eine Aufschrift: Dies ist der Juden König.
39 Aber einer der Übeltäter, die am Kreuz hingen, lästerte ihn und sprach: Bist du nicht der Christus? Hilf dir selbst und uns!
40 Da antwortete der andere, wies ihn zurecht und sprach: Fürchtest du nicht einmal Gott, der du doch in gleicher Verdammnis bist?
41 Wir sind es zwar mit Recht, denn wir empfangen, was unsre Taten verdienen; dieser aber hat nichts Unrechtes getan.
42 Und er sprach: Jesus, gedenke an mich, wenn du in dein Reich kommst!
43 Und Jesus sprach zu ihm: Wahrlich, ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradies sein.
44 Und es war schon um die sechste Stunde, und es kam eine Finsternis über das ganze Land bis zur neunten Stunde,
45 und die Sonne verlor ihren Schein, und der Vorhang des Tempels riss mitten entzwei.
46 Und Jesus rief laut: Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände! Und als er das gesagt hatte, verschied er.
47 Als aber der Hauptmann sah, was da geschah, pries er Gott und sprach: Fürwahr, dieser Mensch ist ein Gerechter gewesen!
48 Und als alles Volk, das dabei war und zuschaute, sah, was da geschah, schlugen sie sich an ihre Brust und kehrten wieder um.
49 Es standen aber alle seine Bekannten von ferne, auch die Frauen, die ihm aus Galiläa nachgefolgt waren, und sahen das alles.
Liebe Gemeinde,
von Ferne, so berichtet Lukas, nur von ferne, stehen sie das alle und sehen, was auf Golgatha passiert, die Bekannten und Freunde Jesu, auch die Frauen, die ihm gefolgt waren. Von Ferne, weil die Angst sie gepackt hatte, sie alle nicht den Mut hatten – und wer mag ihnen das vorwerfen – bei Jesus zu bleiben. Von Ferne sehen sie, was geschieht. Machtlos, ohnmächtig, vielleicht auch beschämt, weil sie nichts, aber auch gar nichts tun können. Nur von ferne scheinen sie dabei zu sei, und doch sind sie mit dem Herzen wohl ganz nah dran. Von Ferne also nur sind seine Nächsten dabei. Am Kreuz ist Jesus allein, keiner, der ihn begleitet. Mutterseelenallein, von Gott und den Menschen verlassen.
Eigentlich ist es nicht aushaltbar, was da geschieht. Aber dennoch sind Menschen da. Nicht nur die Soldaten, die das Urteil der Kreuzigung, die unter allen Todesurteilen als äußerst schändlich und besonders abschreckend, weil qualvoll und langwierig, galt. Auch das Volk, so berichtet Lukas, ist da und schaut zu. Der Tod, auch die Grausamkeiten, sie scheinen ja auch etwas Faszinierendes zu haben. Jedenfalls so, dass Menschen da zugucken. Man weiß nicht wie. Vielleicht voll Mitleid, vielleicht aber einfach, um einen Kick zu bekommen oder aus Schadenfreude. Angenehm wird das jedenfalls nicht gewesen sein, auch nicht für Jesus und die beiden Verbrecher, die da mit ihm gekreuzigt wurden. Es wohl das Gefühl der Einsamkeit, der Verlassenheit, nur noch verschärft.
Schwer auszuhalten war das, für alle jedenfalls, denen Jesus etwas bedeutete. Schwer auszuhalten auch in der Form, in der Markus von dem Geschehen berichtet. Bei Markus stirbt Jesus mit einem Schrei, während er den Klage- und Sterbepsalm betet: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“
Hier, bei Lukas, ist es anders. Die Klage der tiefsten Gottverlassenheit, sie fehlt. Wir wissen nicht genau, warum. War sie zu schwer auszuhalten für die, die Jesus begleitet hatten und die nun nur noch von ferne zuschauen können? Oder ist es einfach, wie so oft bei uns Menschen, die Unterschiedlichkeit der Erinnerungen. Letztlich allerdings spiegeln jene letzten Worte etwas von Leben und der Botschaft Jesu wieder, die sich für mich v.a. in der Stetigkeit und der Dauerhaftigkeit seines Gottesvertrauens darstellt. Leben und Verkündigung verbinden sich hier untrennbar. Das gilt auch für die letzten Worte Jesu. Bei Markus ist es nur dieses eine, der klagende, verzweifelte Schrei des jüdischen Sterbegebets. Hier, bei Lukas, werden dagegen gleich drei Worte überliefert. Während Markus mit guten Gründen die Gottverlassenheit Jesu betont, stellt Lukas uns eine anderen Jesus dar, einen, der noch bis zuletzt für andere da ist, der sogar seinen Folterern vergeben kann, der Trost spendet und sich schließlich ganz in Gottes Hände gibt.
Heute, am Karfreitag, stehen auch wir mit unter dem Kreuz. Vielleicht sind wir nur Zuschauer, neugierig, interessiert, oder ganz tief uns selbst hineinschauend, als Andächtige, als Betende, als Trauernde; vielleicht können wir nur aus der Ferne schauen, nicht nur, weil wir uns nicht nah herantrauen, sondern weil uns etwas in uns abhält, uns ganz auf Jesus einzulassen. Vielleicht sind wir auch einer der Soldaten, die einfach nur ihre Pflicht tun und sich dann wundern über diesen merkwürdigen Mann, der so gelassen in den Tod zu gehen scheint. Auch das mag eine Perspektive sein. Immerhin ist es einer der Soldaten, der nach dem Eintritt des Todes bekennen wird: Ja, dieser ist wahrhaftig Gottes Sohn. Wie dem auch sei, wer unter dem Kreuz steht, den lässt es nicht kalt, der wird Stellung beziehen müssen.
Wie immer wir unter dem Kreuz stehen, was immer uns durch den Sinn kommt, Jesus nimmt uns mit auf seinem Weg. Er erteilt uns eine letzte Lektion, er schickt uns in eine Schule des Gebets. Denn darum geht es in den drei Worten, die er noch spricht.
Zunächst: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Hier kommt eine tiefe Kraft des Glaubens zum Ausdruck, eine tiefe Verbundenheit mit Gott. Denn nur so kann ich mir erklären, was Jesus hier tut. Hier spricht einer, der sich in allem Leid wunderbar getragen weiß. Einer, der im Reinen ist mit sich und seinem Gott. Und der so, trotz aller Schmerzen sterben. Einer, der nicht nach Rache und Vergeltung ruft: „Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!“ Gegenüber denen, die ihn verspotten, schweigt Jesus. Er würdigt sie keiner Reaktion. Die Bitte um Vergebung bringt Gott ins Spiel, den Jesus seinen Vater nennt. Keine Anklage. Keine Vorwürfe. Keine Rachegefühle. Kein Hass. Jesus macht Ernst mit dem Gebet, das in seinem Namen gesprochen wird: Vergib und unsere Schuld, wie auch wir vergeben unser Schuldigern! Noch im Leid spricht Jesus Vergebung zu. Noch am Kreuz will er selbst seinen Peiniger einen Weg zu einem Leben aus Vergebung und Versöhnung eröffnen. Denn selbst jetzt ist es dazu offensichtlich noch nicht zu spät.
Das löst die nächste Szene aus. Da sind zwei Verbrecher mit ihm gekreuzigt. Einer verspottet ihn. Noch am Kreuz, in der Stunde des Todes, bleibt er im Hass und in der Unversöhnlichkeit gefangen. Der Andere hingegen erkennt irgendwie, wer das neben ihm hängt. Ja, im Moment des Todes hat er vielleicht einen seiner besten Momente, echte und tiefe Selbsterkenntnis. Spotte nicht, ruft er dem anderen zu, wir bekommen, was wir verdienen. Aber der hier, der in der Mitte, bei dem ist das anders. Vielleiht hat ihn beeindruckt, wie Jesus seinen Peinigern begegnet. Und so öffnet er sich ihm ganz. „Ich kann nichts tun, aber du, Jesus, gedenke meiner. Gedenke meiner, wenn du, der leidende Gerechte, deine Herrschaft antrittst.“ Und dann antwortet Jesus: „Wahrlich, ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradies sein.“
Da ist die Verheißung: Du wirst mit mir im Paradies sein. Es gibt ja so verschiedene Vorstellungen davon, wie das Paradies aussehen sollte, oder was man dort erwarten dürfte. Vermutlich stimmen sie alle nicht. Denn keiner von uns war zusammen mit Adam und Eva im Paradies. Wir kennen nur diese Erde, unsere Welt, die auf jeden Fall nicht das Paradies ist. Ich will nicht darüber spekulieren, wie das Paradies sein könnte. Viel wichtiger ist die Tatsache, dass Jesus weiß, wo er nach seinem Tod hingeht und dass dies ein Ort ist, an den er Menschen, die an ihn glauben mitnehmen oder nachholen wird. Folgen wir dem innerbiblischen Zusammenhang, dann wird klar, dass dieses Paradies der Urzustand der Schöpfung sein muss, in dem noch keine Sünde uns von Gott trennte. Ja, es muss eine völlige Überbietung des ursprünglichen Paradieses sein, offensichtlich der „Ort“, an dem Gott selbst ist. Er lebt in der Ewigkeit. Etwas, das wir uns nicht vorstellen können. Dahin nimmt Jesus den mit ihm gekreuzigten, reuigen Verbrecher mit. Ein Bild, nicht mehr, aber auch nicht weniger, für etwas, das wir nur höchst unvollkommen beschreiben oder ausdrücken können.
Dann als zweites nur ein Wort: Heute! Darin steckt vielleicht nur ein winziges, aber umso wichtigeres Detail. Jesus weiß, dass in einigen Minuten oder Stunden der Tod der drei am Kreuz hängenden Männer eintreten wird. Ihr Tod ist voraussehbar. Dann werden die gefolterten und verwundeten Körper dieser Männer am Kreuz hängen, entseelt, leblos, kalt, tot. Man wird die Leichname irgendwann abnehmen und beerdigen. Und dann stellt sich ja die Frage, was ist mit den Seelen dieser Männer? Das ist eine Frage, die uns selbst ja auch immer wieder umtreibt, nicht nur wenn wir mal wieder zu einer Beerdigung gehen. „Ich glaube fest daran, dass mit dem Tod nicht alles aus ist. Aber wo bin ich denn nach meinem Tod? Werde ich irgendwo abgestellt, geparkt, zwischengelagert, auf einem besonders schönen Friedhof oder schmore ich noch einige Zeit im Fegefeuer?“ Jesus gibt uns eine einfache und klare Antwort: Heute! Heute! Du brauchst dir über deinen Verbleib nach deinem Tod keine Sorgen zu machen. Auf dem Friedhof begraben sie nur deine sterbliche Hülle. Das ist Geschichte, Vergangenheit. Da bist du längst mit deinem Gott im Himmel, im Paradies!
Und dann drittens die Versicherung, der Zuspruch: „Jesus spricht: Wahrlich, ich sage dir.“ So kann nur er, der Mensch Gottes, reden. In dieser Vollmacht und mit dieser Wirkung. Es ist das Wort dessen, der die Welt erschaffen hat, der Sonne, Mond und Sterne, das Wasser, die Erde, die Pflanzen und Tiere und zuletzt den Menschen geschaffen hat, allein durch die Macht seines Wortes. Der spricht hier! Es ist der, von dem es im Johannesevangelium heißt, dass er das Wort selbst ist. Person und Wort fallen bei Gott in eins zusammen. Der spricht hier. Und für den ist es ein Leichtes zu sagen: Und wenn du hundertmal den qualvollsten Tod sterben müsstest: Wahrlich, ICH sage dir: Heute wirst du mir im Paradiese sein. Das ist das Geheimnis des Glaubens. Da, wo nur Tod zu sein scheint, da beginnt Gottes Liebe.
Dann wird es ruhig an den beiden Kreuzen rechts und links von Jesus. Stille breitet sich aus. Jetzt geht es auf das Ende zu. Doch noch einmal öffnet Jesus den Mund auf, der eben noch von Vergebung und Hoffnung auf Gemeinschaft mit Gott verkündet hat, in der ich mich sehen kann wie ich bin: unverstellt, mit allen meinen Narben und Schwächen, aber eben darin einer der Gott nötig hat und mit dem Gott Gemeinschaft will. Und jetzt, in die Stille hinein, beginnt Jesus zu beten. So, wie es ihm vielleicht seine Mutter Maria als kleines Kind gelehrt hat. Jesus betet eines der schönsten Abendgebete des Judentums:
„Du bist meine Stärke. In deine Hände befehle ich meinen Geist; du hast mich erlöst, Herr, du treuer Gott. Ich hasse, die sich halten an nichtige Götzen; ich aber hoffe auf den Herrn. Ich freue mich und bin fröhlich über deine Güte, dass du mein Elend ansiehst und nimmst dich meiner an in Not und übergibst mich nicht in die Hände des Feindes; du stellst meine Füße auf weiten Raum." (Psalm 31,5b-9)
Merkwürdig getragen und geborgen, selbst im tiefsten Schmerz, so verlässt Jesus diese Welt. Sein Lebensatem geht zurück zu Gott zurück, um dann drei Tage später verwandelt den weiten Raum des Lebens zu betreten.
Jesus der Gekreuzigte als Mittler der Vergebung. Jesus als Fürsprecher der Gnade. Als Sterbebegleiter der in Gott Geborgenen. Drei Sätze, die Jesus sagt: Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun. Wahrlich, ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradies sein. Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist.
Und jetzt stehe ich unter dem Kreuz und frage mich: Ist das nicht unsere einzige Chance, dass Frieden wird in unserem Leben und Sterben und weit darüber hinaus, in der Weite eines Lebens in Gott - dass er uns vergibt? Wie oft weiß ich nicht, was ich tue. Kein böses Wort für uns hat? Nicht für die Römer, die ihn verurteilen, nicht für die Juden, denen er in die Quere kommt. Nicht für die Jünger, die ihn mehr oder weniger deutlich im Stich lassen. Nicht einmal für den Übeltäter, der lästert.
Jesus lädt noch in der Todesstunde deutlich ein: Es gibt eine Gerechtigkeit Gottes! Denkt nicht an Rache und Vergeltung. Ich wünsche uns die Ruhe der Karfreitagspredigt des Lukas. Er lädt uns ein, zu glauben, dass es eine Gerechtigkeit Gottes gibt. Dieser oberflächlichen, lauten, manchmal auch elenden Welt bleibt Gottes Gerechtigkeit verborgen. Denkt weniger an Vergeltung und Rache, eher an Einladung und Liebe: Reihe dich ein in den Befreiungszug all der Geschundenen und Schinder, der Täter und Opfer. So oder so sind wir beteiligt an dieser Geschichte. Selbst wenn wir nicht wissen, was wir tun.
Geheimnis des Glaubens. Gott rückt von der Mitte auf die Seite, stellt sich unter dich und gibt dir Halt. Deinen Tod, o Herr, verkünden wir, und deine Auferstehung preisen wir, bis du kommst in Herrlichkeit. Nur noch drei Tage.
Amen