(Predigttext: Lk. 11, 5-13)
5 Und er sprach zu ihnen: Wer unter euch hat einen Freund und ginge zu ihm um Mitternacht und spräche zu ihm: Lieber Freund, leih mir drei Brote;
6 denn mein Freund ist zu mir gekommen auf der Reise, und ich habe nichts, was ich ihm vorsetzen kann,
7 und der drinnen würde antworten und sprechen: Mach mir keine Unruhe! Die Tür ist schon zugeschlossen und meine Kinder und ich liegen schon zu Bett; ich kann nicht aufstehen und dir etwas geben.
8 Ich sage euch: Und wenn er schon nicht aufsteht und ihm etwas gibt, weil er sein Freund ist, so wird er doch wegen seines unverschämten Drängens aufstehen und ihm geben, so viel er bedarf.
9 Und ich sage euch auch: Bittet, so wird euch gegeben; suchet, so werdet ihr finden; klopfet an, so wird
euch aufgetan.
10 Denn wer da bittet, der empfängt; und wer da sucht, der findet; und wer da anklopft, dem wird aufgetan.
11 Wo bittet unter euch ein Sohn den Vater um einen Fisch, und der gibt ihm statt des Fisches eine Schlange?
12 Oder gibt ihm, wenn er um ein Ei bittet, einen Skorpion? 13 Wenn nun ihr, die ihr böse seid, euren Kindern gute Gaben zu geben wisst, wie viel mehr wird der Vater im Himmel den Heiligen Geist geben denen, die ihn bitten!
Liebe Gemeinde,
Beten hat viele Gesichter und Formen. In meiner letzten Gemeinde in Berlin gab es ein Buch, in dem Besucher ihre Bitten und Wünsche eintragen konnten. Zum Beispiel: „Mein Leben ist eigentlich ganz super hier, dafür danke ich dir auch.“ Oder: Hallo Gott, ich hoffe, das mit L. hält lang.“ Und: „Herr, beschütze meine Familie und besonders meinen Mann nach seinem Herzinfarkt.“ Ich habe oft in diesem Buch geblättert. Es beeindruckte mich, was Menschen Gott anvertrauen, wie unbefangen sie mit ihm reden. So viele Wünsche und Sehnsüchte drücken sich hier aus – und finden die Form eines niedergeschriebenen Gebets. Das Gebet ist hier etwas privates, höchst Intimes.
Hier in Südafrika erlebe ich Beten noch einmal anders. Das mag daran liegen, dass Religion viel selbstverständlicher ist als in Deutschland. 85% der Bevölkerung gehören einer der unzähligen christlichen Kirchen und Gemeinschaften an. Dass man beim Besuch im Krankenhaus schon auf dem Parkplatz als Pastor angesprochen wird: „Maruti, beten Sie mit mir und segnen Sie mich“, ist nicht ungewöhnlich. Und kaum hat man Luft zum Antworten geholt, dann kniet auch schon jemand vor einem, bereit für Gebet und Segen. Mich beeindruckt dieses ganze ungetrübte, selbstverständliche, fast naive Gottvertrauen. Nicht, dass das Beten hier weniger intim und existentiell wäre – im Gegenteil –, aber es kann auch mehr im öffentlichen Raum geschehen, ist oft spontaner, lebt mehr vom Unmittelbaren.
Unabhängig von den verschiedenen Ländern und Kulturen: Im Gebet gebe ich etwas von mir preis. Ich schreibe es vertraulich in ein Buch oder es überkommt mich auf dem Parkplatz. Das Gebet lebt von ganz existentiellen Impulsen. Im Beten offenbare ich meine Bedürftigkeit. Dass dem Gebet entsprochen wird, kann nicht erzwungen, nur erhofft werden. Beten zeigt die Verletzlichkeit menschlichen Lebens. Es heißt deshalb auch, sich der Erfahrung wie der Erkenntnis aussetzen, dass das Leben nicht allein in der produktiven und konstruktiven Welterschließung aufgeht, sondern immer auch auf das Empfangen angewiesen ist. Das Gebet ist die eigentliche Sprache der Religion.
Mit dem Beten hat jeder seine eigene Geschichte. Für mich gehört zu dieser Geschichte eins dieser alten Sprichwörter oder Lebensweisheiten: Not lehrt beten. Immer dann, wenn die Lage hoffnungslos scheint, so legt dieses Wort nahe, dann besinnen sich die Menschen auf das, was jenseits ihrer selbst liegt, auf Gott und versuchen, ihr Schicksal in seine Hände zu legen. Sie beten um ihre Rettung und Bewahrung in einer hoffnungslosen, ja scheinbar ausweglosen Situation. Sie legen ihr eigenes Leben und das ihrer Lieben Gott ans Herz, auf dass er sie wohl führe und geleite.
Keinesfalls sollte man dies Verhalten gerade auch bei solchen Menschen, die sonst wenig von Gott in ihrem Leben wissen wollen, abtun als etwas, was sie eben erst jetzt in der Not lernen, es aber sonst nicht praktizieren. Dass Not viele beten lehrt, zeigt doch auch ein Bewusstsein davon, dass wir nicht alles in unserem Leben aus uns selbst heraus meistern.
Not lehrt beten – das ist für mich aufs engste mit den Erzählungen meiner Großmutter verbunden war. Oft hat sie das als so eine Weisheit, wie sie Großmütter eben im Laufe eines langen Lebens sich erwerben, gesagt und dann viel von ihren eigenen Nöten und Widerfahrnissen berichtetet. Wie sie etwas gebetet hat um den Erhalt ihrer Familie in der schweren Zeit des Krieges. Sie hatte doch – das war mir immer ein wichtiger Eindruck – ein unverbrüchliches Vertrauen in die Kraft des Gebetes. Eine der biblischen Stellen, die sie dann immer zitierte war die, die wir eben gehört haben: Bittet, so wird euch gegeben, suchet, so werdet ihr finden, klopfet an, so wird euch aufgetan.
Nun wissen wir alle gut, dass nicht alles, worum man auch und gerade in der Not bitten mag, in Erfüllungen geht. Und ich habe mit der vielleicht etwas unverschämten Keckheit des Jugendlichen auch meine Großmutter danach gefragt. Denn auch bei ihr waren nicht alle Gebete so erhört worden, wie sie sich das vorgestellt hatte. Man brauchte eigentlich nur auf das Kriegsfoto ihres gefallenen Ältesten auf der Anrichte verweisen. Wie inständig mochte sie für ihn gebetet haben, vielleicht nicht minder aufdringlich als jener nachts an die Haustür hämmernder Freund, von dem wir im Predigttext gehört haben – und er war doch nicht zurückgekommen. Sie hat mir damals in etwa so geantwortet: „Und doch hat es geholfen. Und doch hat Gott uns durch diese schwere Zeit gebracht.“
Ich habe damals eigentlich das erste Mal verstanden, dass Beten unendlich mehr ist als Gott um irgendetwas Dinglich-Gegenständliches zu bitten. Ich habe eigentlich damals zum ersten Mal geahnt, dass Beten auch eine Lebenshaltung bedeutet. Sich selbst, seine Lieben, sein Leben eben in Gottes Hand zu geben im Vertrauen auf seine väterliche Liebe. Beten heißt dann auch, das, was kommt, anzunehmen, im Vertrauen, dass Gott mich durch alles hindurch tragen wird. Jesus spricht ja auch in diesem Text nicht einfach davon, dass alles erfüllt wird, worum wir beten, sondern er nennt vor allem eine Gabe, die einem frommen Beter gegeben wird: „Wenn nun ihr, die ihr böse seid, euren Kindern gute Gaben geben könnt, wieviel mehr wird der Vater im Himmel den heiligen Geist denen geben, die ihn bitten.“
Wenn Jesus so vom Heiligen Geist spricht, dann meint der damit jenen tröstenden und stärkenden Geist, der bei seinem Abschied den Seinen verheißen hat. Einen Geist der Klarheit und der Kraft, der Liebe und der Zuversicht, des Trostes und der Hoffnung. Einen Geist, der durch Leben und Leiden hindurchzutragen hilft, einen Geist, der auch dann nicht von Gott lässt, wenn wir seine Wege mit uns einmal nicht verstehen. Ein solcher Geist – er ist die Frucht jedes wirklichen Gebetes – eines Gebetes, das auch von den eigenen Wünschen und Willen abzusehen vermag und sich ganz in Gottes gütige Hände hineingibt. Dass mit dem Vaterunser betet: Dein Wille geschehe. Ein Gebet, das uns die Mittel zum Leben gibt. So wie ja auch das VU von den wirklich wichtigen Dingen im Leben redet: Brot, Schuld und Vergebung und dabei zunächst Gott die Ehre gibt. Beten, das heißt dann sich in Gottes Hand geben und dabei sich auch über sich selbst klar zu werden.
Wer bittet, erkennt an, einen grundsätzlichen Mangel zu haben. Wer bittet, gesteht ein, auf andere angewiesen zu sein. Wer bittet, macht sich zugleich verletzlich. Deshalb ist Bitten so riskant. Die Bitte kann abgewiesen und unerfüllt bleiben. Darin liegt die Verletzlichkeit des Bittenden. Er kann nur darauf hoffen und vertrauen, dass der Adressat seiner Bitte ihn trotz seiner Hilfsbedürftigkeit als Person mit unverletzbarer Würde akzeptiert und anerkennt. Sonst droht die Bitte ins Betteln umzuschlagen, muss der Bittende damit rechnen, dass seine Schwäche und Verletzlichkeit gnadenlos ausgenutzt wird. Die Bilder aus Jeus Worten – dem unmittelbaren Alltag seiner Hörerschaft entnommen – sollen zeigen, dass das Gottesverhältnis der Menschen, die im Geiste Jesu beten, gerade nicht dieses Machtgefüge zu fürchten haben. Beten ist vertrauensvolle Hingabe. Die Gebetspraxis Jesu verdeutlicht das schon in der Anrede Gottes als Vater. Jesus wird damit so etwas wie der exemplarische, der beispielhafte Beter, gerade im Vaterunser: Er betet nicht, um stürmische Wünsche gen Himmel zu senden oder um dieses oder jenes irdische Gut zu erlangen, sondern er betet, um sich die Kraft zu erhalten, die er schon besitzt, und die Einheit mit Gott zu sichern, in der er lebt. Dieses Gebet führt einerseits aus Allem heraus und auf jene Höhe, auf der die Seele mit ihrem Gott allein ist. Und doch verschwindet das Irdische nicht, die ganze zweite Hälfte des Gebetes bezieht sich auf irdische Verhältnisse. Aber sie stehen im Lichte es Ewigen, bekommen eine andere Bedeutung. Der Namen, der Wille, das Reich Gottes – diese ruhenden und stetigen Elemente sind ausgebreitet auch über die irdischen Verhältnisse. Nach diesem Gebet ist das Evangelium Gotteskindschaft, ausgedehnt über das ganze Leben, ein innerer Zusammenschluss mit Gottes Willen und Gottes Reich.
Man kann es vielleicht auch so formulieren: Wer so im Namen Jesu bittet, der empfängt Trost und Geborgenheit im Gottvertrauen und Gotterleiden, wer so bedingungslos Gott sucht, der findet Gottes Spuren seinem Leben, wer so bittend und hoffend anklopft, dem werden neue Türen und Lebensperspektiven eröffnet.
So wird im Beten zu Gott als Freund und Vater sein Name geheiligt, geschieht sein Wille auch im Leben des Betenden und scheint Gottes Reich auf mitten in der Zeit. Diese Einsicht ist auch für die Frage wichtig, ob ein Gebet – und wenn ja, wie – erhört wird. Vermutlich entscheidet sich die Frage, ob ein Gebet gelingt, auch nicht daran, ob meine Bitte eins zu eins erfüllt wird. Gelungen ist ein Gebet auch dann, wenn ich spüre, dass es eine Last von mir nimmt. Wenn ich nicht ins Leere rede, sondern Gott mir schon im Akt des Betens selbst seine Güte, seine Nähe zeigt. Dem Bittgebet im Lichte des Vaterunsers geht es aber gerade nicht um individuelle Bedürfnisbefriedigungen, sondern darum, in Gottes Willen einstimmen zu können. So stellt auch Lukas den exemplarischen Beter Jesus in der Gethsemaneszene dar (22, 39-46), in der einerseits Jesu individuelle Bitte, der Kelch möge an ihm vorübergehen nicht erhört wird, Jesus aber stattdessen in Gottes Willen einstimmen kann.
Im Vaterunser beten wir das und drücken die Grundhaltung des Betens so aus: „Dein Wille geschehe.“ Und so hat es auch Jesus vor seinem Tod zu Gott gerufen: Nicht mein Wille, sondern dein Wille geschehe. Das heißt für mich: Mein Leben, meine Bitten sollen mit Gottes Willen zusammenklingen. Allerdings: welcher Mensch, dem ein schweres Unglück zugestoßen ist, kann das nachsprechen: „Dein Wille geschehe“? Oft möchte man doch sagen: „Gott, dein Wille ist mir einfach unbegreiflich ...“
Und doch liegt für mich der Sinn des Betens darin, dass unser Wille mit dem Willen Gottes eins wird. Wir bleiben damit gegenüber Gott nicht fremde, letztlich gleichgültige Bittsteller, sondern sprechen zu ihm als Freunde. Als Gotteskinder, die mit ihm einverstanden sind und sich ihm anvertrauen. Oft erfahre ich: Ein solches Gebet ist gut für mich, auch wenn nicht gleich alles anders wird. Es lässt mich Schönes und Schweres in einem anderen Licht sehen. In ihm nehme ich Abschied von meinem eigenen Willen, meinen eigenen Vorstellungen, um mich vor Gott selbst neu zu finden. Das weitet meine Seele. Und manchmal kann ich dann sogar sagen: Hallo Gott, mein Leben ist eigentlich ganz super hier.
Amen!