(Predigttext: Jes 6, 1-13)
61 In dem Jahr, als der König Usija starb, sah ich den Herrn sitzen auf einem hohen und erhabenen Thron und sein Saum füllte den Tempel.
2 Serafim standen über ihm; ein jeder hatte sechs Flügel: Mit zweien deckten sie ihr Antlitz, mit zweien deckten sie ihre Füße und mit zweien flogen sie.
3 Und einer rief zum andern und sprach: Heilig, heilig, heilig ist der HERR Zebaoth, alle Lande sind seiner Ehre voll!
4 Und die Schwellen bebten von der Stimme ihres Rufens und das Haus ward voll Rauch.
5 Da sprach ich: Weh mir, ich vergehe! Denn ich bin unreiner Lippen und wohne unter einem Volk von unreinen Lippen; denn ich habe den König, den HERRN Zebaoth, gesehen mit meinen Augen.
6 Da flog einer der Serafim zu mir und hatte eine glühende Kohle in der Hand, die er mit der Zange vom Altar nahm,
7 und rührte meinen Mund an und sprach: Siehe, hiermit sind deine Lippen berührt, dass deine Schuld von dir genommen werde und deine Sünde gesühnt sei.
8 Und ich hörte die Stimme des Herrn, wie er sprach: Wen soll ich senden? Wer will unser Bote sein? Ich aber sprach: Hier bin ich, sende mich!
9 Und er sprach: Geh hin und sprich zu diesem Volk: Höret und verstehet's nicht; sehet und merket's nicht!
10 Verfette das Herz dieses Volks und ihre Ohren verschließe und ihre Augen verklebe, dass sie nicht sehen mit ihren Augen noch hören mit ihren Ohren noch verstehen mit ihrem Herzen und sich nicht bekehren und genesen.
11 Ich aber sprach: Herr, wie lange? Er sprach: Bis die Städte wüst werden, ohne Einwohner, und die Häuser ohne Menschen und das Feld ganz wüst daliegt.
12 Denn der HERR wird die Menschen weit wegführen, sodass das Land sehr verlassen sein wird.
13 Auch wenn nur der zehnte Teil darin bleibt, so wird es abermals kahl gefressen werden, doch wie bei einer Terebinthe oder Eiche, von denen beim Fällen
noch ein Stumpf bleibt. Ein heiliger Same wird solcher Stumpf sein.
Liebe Gemeinde,
Autofahrten mit Kindern können manchmal ganz ungeahnte Herausforderungen mit sich bringen. Wir waren auf alles vorbereitet – hatten die richtigen CDs eingepackt und die Lieblingsgetränke nicht vergessen – dreieinhalb Stunden Autofahrt, die wollten geplant sein. Aber dann kam es doch zu einer Überraschung: Als die Kleine gerade eingeschlafen war und ich mich auf eine ruhige und zügige Fahrt freute, meldete sich unser Großer, damals fast neun Jahre alt, unvermittelt zu Wort: „Warum ist Gott eigentlich heilig?“
Meine Frau und ich schauten uns an. Auf Religionsgespräche waren wir so früh am Morgen nicht eingestellt. Ich konterte mit einer Gegenfrage: „Was ist für dich denn heilig?“
Es folgt ein Moment Schweigen, dann antwortete der Große: „Na ja, ganz verschieden. Dass wir uns alle gut verstehen. Dass ich auch mal meine Ruhe nur für mich haben kann. Na, und Dinge, die mir besonders wichtig sind, die sind mir auch heilig. Auf die achte ich dann besonders. Aber was hat das mit Gott zu tun. Will der manchmal auch seine Ruhe haben?“
Inzwischen war mir Jesaja eingefallen und ich erzählte meinem Sohn von dem Propheten, der vor vielleicht 2700 Jahren einen merkwürdigen Traum hatte. Er träumte nämlich davon, Gott so zu sehen, wie man sich damals eigentlich einen König vorgestellt hat. Gott saß auf einem erhabenen Thron. Um ihn herum Engel und andere Wesen. Und wie die Boten eines Königs riefen sie das aus: Heilig, heilig, heilig ist Gott. Alle Lande sind seiner Ehre voll.“ Jesaja, erklärte ich, hat diesen Traum für sich so gedeutet, dass Gott besonders wichtig, besonders bedeutungsvoll, besonders groß ist. Und dass er wichtiger ist als noch der mächtigste König. Für Jesaja war dieser Traum so wichtig, dass er sein Leben änderte. Er hatte gemerkt, dass es eine ganz andere Wirklichkeit gibt, die die Menschen nicht selbst machen können. Und das hat sein Leben so verändert, dass er nur noch Gott dienen wollte.
So habe ich in einfachen Worten versucht zu erklären, was unser Bibeltext zu beschreiben versucht. Man kann es, mehr für Erwachsene, auch so versuchen: der Prophet Jesaja sieht im Jahre 736 vor Christus tatsächlich Gott. Und er hört das Rufen von Seraphim, ja er spricht schließlich sogar mit Gott. Das ist so außergewöhnlich, dass er extra das Jahr angibt, in dem ihm das widerfahren ist: Damals war es, ich weiß es noch genau. Der Herr sitzt riesenhaft auf einem hohen Thron, und der Saum seines Gewandes füllt den ganzen Tempel aus. Seraphim, jene drachenähnlichen Wesen, die ihm dienen, fliegen mit je drei Flügelpaaren über Gott hin und her. Ihre Gesichter und Füße sind nicht zu sehen, weil sie von Flügeln bedeckt werden: Vor der Heiligkeit Gottes muss man aus Ehrfurcht sein Angesicht bedecken und seine Schuhe ausziehen. So beschreibt es die uralte Überlieferung. Die Seraphim rufen einander zu: „Heilig, heilig, heilig ist der Herr. Alle Lande sind seiner Ehre voll." Dieses Dreimal-Heilig, dass wir beim Abendmahl den Seraphim nachsingen - kombiniert mit dem „Gelobet sei, der da kommt im Namen des Herrn" -, wurde von den Christen als Hinweis auf Gottes Dreifaltigkeit verstanden. Und deshalb ist es heute auch Predigttext. Ursprünglich bedeutet das dreimalige Heilig eine Steigerung: Gott ist so heilig wie sonst keiner. Jesaja erlebt etwas Einmaliges: die eigentlich tabuisierte direkte Nähe und den Anblick Gottes. Kein Sterblicher kann sie ertragen. Daher fürchtet er den Tod: „Weh mir, ich vergehe, denn ich bin unreiner Lippen und wohne unter einem Volk unreiner Lippen ..." Aber einer der Seraphim reinigt ihn von allem, was ihn an dieser Gottesnähe sterben ließe. Nun darf Jesaja mit Gott sprechen und ihm antworten: „Hier bin ich, sende mich!" Er ist so fasziniert von dieser Begegnung, dass Gott ihn in seinen Dienst nimmt und er dazu bereit ist.
Aber jetzt nochmal zurück zu jenem Religionsgespräch im Auto. „Also ist Gott heilig, weil er unendlich groß ist. Aber dann ist er ja auch ganz weit von uns weg“, hakte unser Sohn nach. „Wie bekommt dann überhaupt etwas von ihm mit?“
Wieder versuchte ich zu antworten: Wenn Gott heilig ist, muss er nicht unbedingt weit weg sein. Ich glaube, seine Heiligkeit soll heißen, dass wir ihn nicht einfach für unsere Zwecke missbrauchen sollen. Er ist immer größer als das, was wir von ihm denken können. Aber die Engel in Jesajas Traum rufen ja auch: „Alle Lande sind seiner Ehre voll“ – das heißt doch, dieser heilige Gott zeigt sich überall. Er bleibt nicht fern ab auf seinem Thron sitzen, sondern wendet sich den Menschen zu. Nicht nur Gott ist heilig, sondern auch das Leben, das eben von Gott herkommt. Jeder Mensch hat etwas von Gottes Heiligkeit. Was immer mit seinem Leben passieren mag, bei Gott behält es einen eigenen, nicht verlierbaren Wert, unabhängig von allen Taten, allen Leistungen, allen Zugehörigkeiten. Und dann erzähle ich unserem Sohn davon, wie das damals war, als er geboren wurde. Dass das so ein Moment war, in dem ich etwas von der Heiligkeit Gottes gespürt habe, als ich ihn das erste Mal in den Armen gehalten habe. Unendlich dankbar.
„Also ist Gott auch unendlich klein“, sagte mein Sohn nach einem längeren Schweigen. „Ja“, antwortete ich, „so klein, dass er in jedem Herzen wohnen kann.“ Wieder schwiegen wir. Und dabei merkte ich, dass dieser heilige Gott, unendlich groß und unendlich klein, gerade jetzt bei uns war – in unserem Reden, unserem Nachdenken und unserem Schweigen.
Genau darum geht es an diesem Tag, an Trinitatis. Es geht um die verschiedenen Wirkweisen Gottes, nicht einfach nur um theologische Spekulation. Wie wir Gott begegnen können in Vater, Sohn und Geist. In allen Widersprüchen, die das bedeutet. Manchmal ist Gott uns fern, manchmal ganz nah. Mal sehen wir ihn in unserem Glück, mal erfahren wir ihn gerade im Leid, das uns trifft. Mal sind wir offen für ihn, mal verschlossen. Das Geheimnis seines Wirkens können wir nicht ergründen, aber wir können es in Bildern, immer nur annäherungsweise, beschreiben. Die Trinität ist so ein – gewiss unzureichender – Versuch, ebenso wie es jenes Bild, jene Erfahrung des Jesaja ist. Wie immer unsere Gottesbegegnung konkret aussehen mag, sie soll uns durchdringen, unser Leben verändern. Auch, wo wir vielleicht keine Hoffnung sehen. So ging es jedenfalls Jesaja, der einen unmöglichen Auftrag annahm. Er tat es aus Glaube und auf Hoffnung hin. Weil auch aus dem Stumpf noch ein heiliger Same aufgehen könnte.
Der dreieinige Gott, den wir verehren, schafft Leben, behütet, warnt und nimmt es auch. Er fordert uns heraus und vergibt. Er zeigt sich als Liebe, wo wir Liebe brauchen und unsere Kleinheit und Ohnmacht zugeben. Da brauchen wir Bescheidenheit gegenüber dem, den die Seraphim als dreimal heilig preisen, und Mut, uns auf diesen Gott einzulassen. Mut mit Gott bedeutet Risikobereitschaft und keine Angst vor eigenen Fehlern. Sie lassen sich ohnehin nicht vermeiden. Wie wollen wir uns je von Gott unter unsere Mitmenschen „senden" lassen, wenn wir vor lauter Angst, es nicht richtig zu machen, also aus Angst vor der Sünde, nicht wirklich zu leben wagen? Wie wollen wir je notwendige Kritik äußern, wie Jesaja das tat, wenn wir nur unser kleines Privatleben pflegen und uns nicht engagieren? Martin Luthers Rat an den skrupulösen Freund Philipp Melanchthon gilt auch uns: „Pecca fortiter, sed fortius fide!" „Sündige tapfer, aber glaube umso fester!" Dann brauchen wir zwar den Engel, der uns schmerzhaft reinigt. Dann können wir aber auch sagen: „Hier bin ich. Sende mich!"
Amen.