(Predigttext: Joh 5, 39-47)
39 Ihr sucht in den Schriften, denn ihr meint, ihr habt das ewige Leben darin; und sie sind's, die von mir zeugen;
40 aber ihr wollt nicht zu mir kommen, dass ihr das Leben hättet.
41 Ich nehme nicht Ehre von Menschen an;
42 aber ich kenne euch, dass ihr nicht Gottes Liebe in euch habt.
43 Ich bin gekommen in meines Vaters Namen, und ihr nehmt mich nicht an. Wenn ein anderer kommen wird in seinem eigenen Namen, den werdet ihr annehmen.
44 Wie könnt ihr glauben, die ihr Ehre voneinander annehmt, und die Ehre, die von dem alleinigen Gott ist, sucht ihr nicht?
45 Meint nicht, dass ich euch vor dem Vater verklagen werde; der euch verklagt, ist Mose, auf den ihr hofft.
46 Wenn ihr Mose glaubtet, so glaubtet ihr auch mir; denn er hat von mir geschrieben.
47 Wenn ihr aber seinen Schriften nicht glaubt, wie werdet ihr meinen Worten glauben?
Liebe Gemeinde,
Am Anfang war eine Heilung. Eigentlich etwas, worüber man sich freuen sollte. Aber diese Heilung war ein Skandal, ja eine unerhörte Provokation. Jesus ist in Jerusalem, was er im Johannesevangelium öfter ist. Zu einem Fest ist er hergekommen. Am Stadttor, durch das Jesus hindurch will, befindet sich ein kleiner Teich, um ihn herum einige größere Gebäude, die offensichtlich ziemlich heruntergekommen sind. Hier sammeln sich die Ausgestoßenen und an den Rand gedrängten aus der Stadt Jerusalem. Die jedenfalls, die sozial, wirtschaftlich und politisch nichts zu sagen haben. Und auch religiös nicht. Denn es sind auch die Kranken und Behinderten, die von denen man denkt, sie haben ihr Schicksal verdient. Gott – seine große Vorsehung und Weisheit sei gelobt – habe sie eben bestraft, das ist bedauerlich, aber nun einmal nicht zu ändern – und deshalb ist hier, am Rande der Stadt, der rechte Platz für sie. Weit weg jedenfalls vom Tempel. Denn auch religiös sind sie gleichsam beschmutzt, wert- und wohl auch nutzlos.
Unter den vielen, die da liegen, nimmt Jesus einen Gelähmten wahr, der schon 38 Jahre mit dieser Behinderung leben muss. Wir erfahren kein wie oder warum. Jesus geht schnurstracks auf ihn zu, fragt ihn: Willst du gesund werden? Die Antwort ist etwas zögerlich. Denn der Gelähmte weist darauf hin, dass er gar nicht an den Teich herankommen, dem manche wohl heilende Wirkung zusprechen. Die anderen sind halt schneller und stärker als er. Jesus geht darauf nicht ein, spricht fast gebieterisch: Nimm dein Bett und geht. Und dann: dann geht dieser Mensch, nimmt sein Bett und geht zu Teich.
Dass diese Heilung eine Provokation ist, hat einen schlichten Grund. Es ist Sabbath. Da ist heilen nicht erlaubt, da läuft man nicht wie Jesus einfach so durch das Stadttor und das Herumlaufen mit dem eigenen Bett auf dem Rücken gehört sich auch nicht. Jesus weiß das, der Gelähmte weiß das auch. Aber beide scheint es nicht zu stören. Der Gelähmte jedenfalls setzt sich darüber hinweg, ebenso wie Jesus es tut. Er vertraut diesem Fremden, er will sich auf ihn einlassen, auch wenn er erst später erfährt wer das eigentlich ist. Er will geheilt werden, und zwar jetzt, egal, ob jetzt Sabbath ist oder nicht. So hält es auch Jesus.
Natürlich fällt das auf. Eine Gruppe Schriftgelehrter nimmt Anstoß daran. Sie bedrängen den Gelähmten und schließlich dringen sie zu Jesus vor, zumal Jesus jetzt auch noch von Gott als seinem Vater spricht, der durch ihn gewirkt habe.
Das ist den Schriftgelehrten zu viel. So geht es nicht! Das ist unerhört! Das macht man einfach nicht! Und dann dieser Größenwahn: Gott als sein Vater! Wo kommen wir da noch hin, wo soll das enden? Sie machen es sich dabei nicht leicht. Aus ihrer Perspektive haben sie durchaus recht. Was würde eigentlich passieren, wenn das jeder machen würde? Die Ordnung, auch das Gesetz, soll doch Sicherheit und Freiheit ermöglichen. Dann nicht jeder einfach machen was er will. Nicht Jesus, und nicht dieser Gelähmte. Die Schrift, die Bibel, so sagen sie es nicht ohne Grund, ist da doch klar und eindeutig. Und die Schrift, so fügen sie ihn Gedanken zu, ist mit dem Tempel das einzige, was wir als Volk noch haben. Sie soll und muss das Überleben der Gemeinschaft sichern, deshalb ist es so wichtig, dass alle sich daran halten. Wer hier nachgibt, der hat schon verloren. Dann kommt vielleicht doch der endgültige Untergang, der Verfall, die Überfremdung, nicht nur politisch, sondern auch religiös. Es ist das Gesetz, wie es Mose empfangen und verkündet hat, dass das Heil garantiert.
Man mache es sich nicht zu leicht: das, was die Schriftgelehrten bewegt, sind gewichtige Einwände, die man nicht leichtfertig von der Hand weisen kann. Wie weit kann eine Gemeinschaft, eine Nation, aber auch eine Kirche oder Gemeinde sich eigentlich öffnen, ohne ihre Identität zu verlieren – was immer man auch unter ihr verstehen darf? Welche Freiheit können sich eigentlich einzelne herausnehmen? Welche Rolle spielen Herkunft, Tradition und Sprache? Wie weit kann und darf Veränderung, Transformation eigentlich gehen? Unser Glaube, unsere Schrift, unsere Tradition, die sagen doch was anders, die legen fest, wie es sein soll? Warum davon abweisen, wo doch alles um uns herum schon unsicher ist.
Um nicht missverstanden zu werden: Jesus will all das nicht schlecht machen. Er schätzt die Tradition, er schätzt seine jüdische Religion, aber will sie neu interpretieren, ihr eine neue Richtung geben. Und er verbindet das mit seinem Leben und seiner Mission. Er versucht, neu zu interpretieren, neu zu gewichten. Er will sich nicht einengen lassen durch Sitte, Tradition und irgendwelche Anstands- und Verhaltensregeln, so gut sich auch früher gewesen sein mögen. Darüber sucht er, ja provoziert er den Konflikt. Er ruft zu Entscheidung. Der Gelähmte hat das begriffen. Hier, bei Jesus, bietet sich neue Hoffnung, neues Leben. Der Gelähmte ist bereit, dafür einiges zu riskieren. Denn auch er weiß, dass Heilen am Sabbath allenfalls im Notfall, aber das demonstrative Rumtragen des Bettes keinesfalls erlaubt ist. Bewusst überschreitet er diese Vorschriften und die damit verbundenen Grenzen.
Im Streit, den es jetzt gibt, schleudert Jesus genau das den Schriftgelehrten dann entgegen. Ja, sagt er, ihr sucht Gott in den Schriften, in eurer Frömmigkeit, in euren Traditionen. Aber ihr sucht so sehr, habt so viele Interessen, so viele Befürchtungen, so viele Ängste, dass ihr den Wald gleichsam vor lauter Bäumen nicht seht.
„Ihr sucht in den Schriften, denn ihr meint, ihr habt das ewig Leben darin“, so sagt Jesus es. Ihr habt große Sehnsucht nach Gott, nach Sinn, nach Leben. Ihr sucht an der richtigen Stelle. Und doch verfehlt ihr sooft das Ziel. Man hüte sich davor, so zu tun, als ging es hier um das Judentum – so wie es immer wieder ausgelegt worden ist. Dann hätten wir es einfach heute und könnten und getrost und etwas selbstzufrieden zurücklehnen. Denn dann gingen uns die harten Worte Jesu ja nur als nette Bestätigung unserer eigenen Vorurteile etwas an. Aber offensichtlich gelten sie auch uns, der christlichen, der protestantischen, der lutherischen Gemeinde.
Sich in den Schriften der Bibel auskennen, mit ihnen vertraut sein - bedeutet dies, das Wesentliche im Leben zu haben? Ihr sucht in den Schriften, denn ihr meint, ihr habt das ewige Leben darin, so hören wir Jesus sagen. Jene, die damals in der Bibel nach etwas Verbindlichem suchten, kommen hier überraschend schlecht weg. Hart klingen die Worte, mit denen Jesus ihnen abspricht, trotz eifrigen Bibellesens auf dem richtigen Weg zu sein. Jesus muss ihnen erklären, dass es die (Heiligen) Schriften der Bibel sind, die auf ihn hinweisen. Das Leben, wonach sie suchen, hat etwas mit ihm, Jesus, zu tun. Dies betont der Evangelist Johannes gegenüber ausschließlich auf das Jenseits bezogenen Vorstellungen vom ewigen Leben. Wenn Johannes vom ewigen Leben spricht, meint er nicht nur das jenseitige, nach dem Tod beginnende, sondern das gegenwärtige Leben. Auffällig ist, wie er das Wort „Leben" gleichbedeutend neben dem Wort „ewiges Leben" gebraucht. Der Evangelist verbindet das ewige Leben mit der Person Jesu. Mit Jesus ist das Leben leibhaftig erschienen, das Geheimnis des Lebens, Gott selbst. Es ging Johannes um diese Erkenntnis. Jesus steht zu den biblischen Verheißungen nicht im Widerspruch, der Gottessohn entspricht ihnen zutiefst. „Ich bin gekommen in meines Vaters Namen", sagt Jesus. Welch unerhörter Anspruch. Stein des Anstoßes für die einen. Stärkung des Glaubens für die anderen, Zeichen, dass Gott seine Zusagen erfüllt.
„Ich bin (zu euch) gekommen in meines Vaters Namen, und ihr nehmt mich nicht an", sagt Jesus. Der Streit um die Auslegung der Bibel wird damit zugleich ein Streit um Jesus. Steht in seiner Person der lang ersehnte Messias vor uns? Diese Frage bewegte die Gemüter damals nicht weniger, als sie uns heute umtreibt, wenn wir besorgt nach der Zukunft fragen und nach „Hoffnungsträgern" Ausschau halten. Anstößig für viele war die menschlich vertraute Art, in der Jesus von Gott und seiner Beziehung zu ihm redete, weil sie den weiten Abstand zwischen Mensch und Gott lehrten. Unverständlich war für andere, dass gerade er, der im Namen Gottes kommt und voller Demut allein Gottes Ehre sucht, es so schwer hat, angenommen zu werden. „Wenn ein anderer kommen wird in seinem eigenen Namen, den werdet ihr annehmen", diese Worte Jesu können wir heute gut verstehen. Wir kennen den fragwürdigen Personen- oder Starkult. Jesus ist aber nicht auf äußeres Ansehen bedacht. Er ringt darum, dass wir seine Lehre und sein Wirken im Namen Gottes anerkennen, ihm vertrauen, seinen Worten glauben.
„Ihr sucht in den Schriften ... " Jesus sucht auch bei uns heute die Liebe Gottes. Sie soll unser Leben bestimmen wie unsere Liebe zu Gott, unser Vertrauen, unser Glaube und Handeln. Wir haben keinen Grund, uns über die damaligen Angehörigen jüdischen Glaubens zu erheben, sie sind „unsere älteren Schwestern und Brüder". Ob Juden oder Christen oder Angehörige anderer Religionen - jeder Mensch steht täglich in der Gefahr, das Leben zu verfehlen, und sei er in seinen (Heiligen) Schriften noch so bewandert. Ausdrücklich hören wir: Jesus will jene, die es durch ihre Bibelkenntnis eigentlich wissen müssten, vor Gott nicht „verklagen". Auch wer meint, fest im Glauben zu stehen, hat es nötig, immer wieder von Neuem zu hören und sich zu orientieren, um nicht am Leben vorbeizugehen. Denn der Glaube soll auch Grenzen überschreiten, soll uns nicht einengen und einigeln, sondern öffnen für die Welt in der wir leben. Denn nur so können wir Zeuge der Liebe Gottes sein. Nur so können wir Gottes Spuren in unserem Leben erkennen und Wege ins Leben gehen. Denn Gott liebt die Liebe. Und er liebt das Leben. Das Leben ins seiner Schönheit und seinen Abgründen. Einschließen hilft da nichts.
Amen.