2023-08-13 - 10. Sonntag nach Trinitatis - (DE) - Pfarrerin Nicole Otte-Kempf

( 5. Buch Mose 4,5-20 ) - [ English ]


„Setzt euch hin, ruht euch aus“, sagt Mose. Die Menschen haben einen weiten Weg hinter sich. 40 Jahre sind vergangen seit dieser aufregenden Nacht, als sie aufgebrochen sind. Mittlerweile sind Kinder und Enkelkinder geboren worden. 

Im 5. Buch Mose, aus dem der Predigttext für heute kommt, steht das Volk Israel kurz davor, ins gelobte Land einzutreten. 

Mose macht noch einmal eine Pause und denkt nach. Er selbst wird das Land nur von Weitem sehen, keinen Neubeginn dort erleben dürfen. Aber er wird noch weitergeben, was ihm wichtig ist – worauf es ankommt. 

Was verbindet mich mit ihnen? Wie komme ich darin vor?, frage ich mich. Wie komme ich vor in der Geschichte des Auszugs vor. So, dass sie auch etwas mit meinem Leben zu tun hat. Denn das wollen biblische Geschichten. Sich mit meinem Leben verbinden, so als würden sie mir zurufen: du fängst nicht bei dir selbst an. Dein Glaube hat eine Geschichte.  

Lesen des Bibeltextes

Der letzte Satz klingt nach. Der Herr hat uns herausgeführt aus dem Schmelzofen in Ägypten, aus der Hölle der Sklaverei. Er hat uns angenommen und seinen Bund mit uns geschlossen – dass er uns begleiten und bewahren will, behüten und den rechten Weg leiten. Damit geht alles los – mit der Freiheit. Freiheit von Unterdrückung, Freiheit von ungerechten, ausbeuterischen Verhältnissen … ein guter, wohltuender Anfang ist das. Die Schmelzöfen, die Höllen auf Erden brennen noch an vielen Orten der Welt. 

Unbarmherzig. Frauen, die verhaftet werden, weil ihr Kopftuch nicht korrekt sitzt. Junge Männer, an die Front geschickt mit One-Way-Ticket. Verdorrte Felder und verendete Tiere, brennende Landschaften, überflutete Dörfer im Schmelzofen klimatischer Veränderungen. Dagegen das große Wort „Freiheit“. Pack deine 7 Sachen. Mach dich auf, geh hinaus, ich werde mit dir sein, hat Gott dem Volk Israel 40 Jahre vor der großen Mose-Rede zugerufen. Und sie haben schnell das Nötigste gepackt und haben sich aufgemacht und sind hinausgegangen. Gott war mit ihnen bis zum heutigen Tag. Er wird es auch darüber hinaus sein, beim Einzug in das Land, das er ihnen versprochen hat. 

Die Erfahrung der Freiheit kann ich in den Gesichtern sehen bei den Menschen, die bei mir sitzen.

Unfreiheit zu überwinden braucht seine Zeit. Und sie hinterlässt Spuren. 40 Jahre Wanderung brauchte es, die Gefangenschaft zu verarbeiten. Manchmal braucht es eine ganze Generation. Ich denke an den langen Heilungsprozess bei Kriegsenkeln und Kriegskindern. 

Aber die Verheißung der Freiheit bleibt. Gott führt aus dem Schmelzofen hinaus in die Freiheit, auch wenn eine Wüste dazwischen liegt.

Jetzt erinnert Mose an das, worauf es ankommt. Das, was wirklich zählt, damit das Leben nach dem Neubeginn gelingen kann. „Gott hat euch in die Freiheit geführt“, ruft er uns zu. Diese Freiheit muss man bewahren. Dafür hat Gott uns das Dokument seines Bundes geschenkt – die 10 Gebote, die 10 großen Freiheiten. Sie helfen uns, auch die Freiheit der anderen zu achten und zu schützen. „Siehe, ich habe euch gelehrt Gebote und Rechte… So haltet sie nun und tut sie!“ (5 Mose 4,5-6a)

Gebote und Rechte – Recht und Gerechtigkeit. Mit der Freiheit fängt alles an. Um sie zu schützen, gibt es Regeln. Regeln, die aus vielen unterschiedlichen Menschen eine Gemeinschaft machen. Gebote, die denen einen Schutzraum gewähren, die ihn brauchen. 

Die frühe Rechtsstaatlichkeit in Israel sucht ihresgleichen in den Ländern des Alten Orients. Sie ist eine Sozialstaatlichkeit. Der Gedanke dahinter ist: deine Freiheit ist Geschenk. Du hast sie dir nicht selbst geschaffen. Sorge dafür, dass sie auch denen zugutekommt, denen das Leben Schweres zumutet. Welch eine Sprengkraft und welcher Idealismus stecken darin. Und wie gut, dass viele Länder nach dieser Ordnung ihre eigene Gesetzgebung aufgebaut haben. Es könnten noch mehr sein. 

Recht und Gerechtigkeit müssen auch in Israel immer wieder eingefordert werden. Die Propheten der Königszeit mahnen an, dass Sklaven freikommen sollen und Witwen, Waisen und Fremdlinge einen besonderen Schutz genießen. Sie kritisieren, wo die Herrschenden Gottes Barmherzigkeit vergessen oder für so selbstverständlich nehmen, dass sie nicht mehr für andere reicht, die sie brauchen. Sie deuten Katastrophen, die Israel erleben muss, etwa die Einnahme durch die Assyrer oder die Babylonier oder die Zerstörung des Tempels, als Strafe Gottes.

Prophetische Rechtskritik ist notwendig und heilsam. Es ist nicht ein für alle Mal alles gut und alles gesagt. Auch das gelobte Land nach der Wüstenwanderung ist nicht das Paradies. Recht muss durchgesetzt und manchmal angepasst werden. Wo folgen wir noch den 10 großen Freiheiten? Was bewegt und prägt uns? Was ist uns wichtig im Miteinander? Immer wieder will ich innehalten und nachfragen, so wie Israel jenseits des Jordan.

 Mit dem Einzug ins gelobte und verheißene Land könnte alles geklärt sein. Mit der Befreiung aus den großen und kleinen, privaten und öffentlichen Schmelzöfen dieser Welt alles gut und lebensdienlich. Die Erfahrung lehrt, dass es niemals, jedenfalls nicht in diesem Leben, ein für alle Mal gut ist. Freiheit ist ein hohes und zugleich ein gefährdetes Gut. 

Die hebräische Bibel und das Neue Testament erzählen, dass Gott auch weiterhin mitgeht – in die Wüste, durch die Wüste hindurch und in das Land hinein – und auch über das Land hinaus. Er begleitet Menschen durch Katastrophen, er lässt seine Barmherzigkeit walten und stiftet Frieden und Neubeginn, wo alles am Ende scheint. Er vergibt, wo Menschen sich verrannt haben; schenkt Leben, wo der Tod das letzte Wort zu haben scheint. Er lässt niemanden allein. Bis heute nicht. Darum sind die Pausen so wichtig. Mose hat das erkannt.

Ich blicke mich um. Verbinde mich mit den Menschen jenseits des Jordan, in der Wüste im Jordantal. Sie gehören zu meiner Geschichte, und diese Geschichte wirkt bis heute nach – ich bin ein Teil davon. Dankbar stehe ich auf. Gott hat mich in die Freiheit geführt. Er führt mich weiter, mich und sein Volk, zu dem auch ich gehöre, zu dem auch seine Kirche gehört. Zu dem wir alle gehören. Gemeinsam auf dem Weg. 

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