Johannes 10,11-16
Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus, die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen. Amen
Johannes 10,11-16
11Ich bin der gute Hirte. Der gute Hirte lässt sein Leben für die Schafe.
12Der Mietling, der nicht Hirte ist, dem die Schafe nicht gehören, sieht den Wolf kommen und verlässt die Schafe und flieht – und der Wolf stürzt sich auf die Schafe und zerstreut sie –,
13denn er ist ein Mietling und kümmert sich nicht um die Schafe.
14Ich bin der gute Hirte und kenne die Meinen und die Meinen kennen mich,
15wie mich mein Vater kennt; und ich kenne den Vater. Und ich lasse mein Leben für die Schafe.
16Und ich habe noch andere Schafe, die sind nicht aus diesem Stall; auch sie muss ich herführen, und sie werden meine Stimme hören, und es wird eine Herde und ein Hirte werden.
Liebe Gemeinde,
der Evangelist Johannes sieht in Jesus Christus einen guten Hirten. Das Bild ist Johannes und den Menschen seiner Zeit lange vertraut. Es ist ein Bild aus dem Alten Testament.
Wir Menschen können nicht anders als in Bildern von Gott sprechen und gleichzeitig sollen wir uns kein Bild von Gott machen. Darum spricht schon das Alte Testament nicht in einem Bild, sondern kennt eine Vielfalt von Bildern: Gott ist dort Burg und Schild, Gott ist Hebamme und Felsen, Gott ist ein starker Freund und ein Kämpfer, Gott ist Richter und König. Gott ist all das, aber niemals nur das.
Was die Bilder auszeichnet: sie bringen in Menschen etwas zum Klingen. Jeder hat eigenen Vorstellungen. Nehmen wir das Bild von der Burg: Ein deutscher Leser wird an die schönen Burgen am Rhein denken oder die Wartburg, auf der Luther Zuflucht gefunden hat. So ist Gott, ein Zufluchtsort und gleichzeitig weiß jeder: so ist Gott nicht, denn die Wartburg ist ja viel jünger. Gott ist also kein Baudenkmal aus der Reformationszeit. Ich betone das, um unser Verständnis für die Bedeutung von bestimmten Bildern und die Funktion von Bildsprache zu sensibilisieren.
Ebenso ist es mit dem Bild vom Hirten: das Bild stößt etwas im Zuhörer an und nimmt Erfahrungen auf und dennoch ist Gott vielmehr als in diesem Bild.
Gleichzeitig gibt es kaum ein Bild von Gott, an dem Menschen so festhalten wie das Bild vom guten Hirten – die meisten Menschen können in ihren Gedanken kaum zulassen, dass es auch gute Hirtinnen gab und gerade hier in dem Bild vom guten Hirten typisch weibliche, feminine, Eigenschaften mit Gott in Verbindung gebracht werden, die im Alltag den Frauen zukommen. Psalm 23 beschreibt die typischen Aufgaben einer Hausmutter.
Das ist vielleicht nur eine Nebenbemerkung und doch interessant, weil diese Einsicht uns etwas demütiger macht: Bilder wollen einen Erfahrungsraum eröffnen. Bilder wollen die Weite und Größe Gottes einfangen und Gott aber gerade nicht auf eines dieser Bilder reduzieren.
Im Alten und Neuen Testament sind all diese Bilder aus der damaligen Alltagswelt genommen, damit Menschen ihren Gott besser und näher erleben.
Manche Bilder haben sich dann verselbständigt – sie sind religiöse Bilder geworden, die nahezu unantastbar sind. Dazu gehört auch das Bild vom guten Hirten.
Gott kommt in menschlichen Bildern zur Sprache – wir können ja gar nicht anders als menschlich von Gott reden.
Gerade beim Bild vom guten Hirten ist es notwendig und gut, das alte Bild abzustauben und zu fragen, was bedeutet es in heutiger Zeit, in der wir lange schon nicht mehr in der biblischen Welt leben.
Und da kann es unter anderem helfen, wahrzunehmen, dass in der Antike ganz selbstverständlich Frauen und Männer den Beruf Hirte ausgeübt haben. Die Belege dafür reichen bis zu Platon und anderen antiken Geschichtsschreibern. Um nur an eine Frau zu erinnern: Rahel, die Tochter von Laban, die spätere Frau Jakobs war Hirtin. (Gen29,9). Sie versorgte selbstständig die Herde.
Gleichzeitig und das darf nicht in Vergessenheit geraten war der Hirte oder die Hirtin in der Antike nicht nur ein sehr naturverbundener, anstrengender schlichter Beruf von einfachen Leuten. Das Wort „Hirte“ war in der damaligen Welt, vom Tigris bis zum Nil als Bezeichnung für die Macht von Herrscher bekannt. Ein Kollege nennt sagt: Hirte war ein Weltherrschaftstitel.
Daher findet man in vielen Königslisten als ursprünglichen Beruf den Beruf des Hirten. Auch die assyrischen Könige als „König der Welt und ehrfürchtige Hirten“.
So macht es auch Sinn, dass König David natürlich ursprünglich Hirte war. Er, der König von Israel kann mithalten mit den anderen Königen.
Der Evangelist Johannes nimmt nun dieses vielschichtige Bild für Gott, das Bild des guten Hirten und bezieht es nicht mehr nur auf Gott, sondern auf Jesus Christus.
Damit drückt Johannes zuallererst noch einmal aus, was er an vielen Stellen in seinem Evangelium erzählt: Gott und Jesus Christus sind eins. Gott und Jesus Christus sind eins.
Jesus Christus tritt in die Fußstapfen seines Vaters. Er übernimmt seine Aufgabe. Die Herde, die Gott hütet wird vergrößert und Jesus Christus sorgt für diese große Herde, in der nicht nur jüdische Geschöpfe behütet und bewahrt werden, sondern auch Kreaturen aus anderen Kulturkreisen.
In dieser Herde haben alle Platz – auch die schwarzen Schafe und sie werden vor allem nicht mehr als „schwarze Schafe“ abgestempelt.
Jesus Christus tritt in die Fußstapfen seines Vaters im Himmel. Und Johannes sieht darin eine weltliche und eine himmlische Aufgabe.
Das möchte ich unbedingt betonen: Wir trennen so schnell in Himmel und Erde. Wir tun so als wären es zwei getrennte Herrschaftsbereiche, wo der eine kaum etwas mit dem anderen zu tun hat.
Das alte Testament sieht Gott als Herrscher des Himmels und der Erde. Und wenn Jesus in seine Fußstapfen tritt, dann gilt es für ihn auch. Sein Herrschaftsbereich ist nicht nur irgendwo und irgendwann im Jenseits, sondern seine Kraft verändert diese Welt. Das ist mit Herrschaft gemeint. Jesus ist dabei kein grausamer Herrscher wie die Könige von Assur oder selbst die Könige Israels. Er ist kein grausamer Herrscher wie der Kaiser von Rom. Nein, Jesus Christus wird nicht so ein weltliches Amt übernehmen, doch seine Kraft und sein göttliches Amt verändern die Herrschaftsverhältnisse in der Welt.
Alles, was in Psalm 23 als die Tätigkeit eines guten Hirten beschrieben wird, werden Aufgaben, die Jesus Christus erfüllt.
Da soll eben kein Mangel mehr erfahrbar sein.
Da soll die Hoffnung bestehen, dass Menschen aufatmen und neu erquickt werden. Da soll gewährleistet werden, dass sie weggeführt werden aus der Trostlosigkeit einer Wüste, in die Freiheit eines fruchtbaren Landes.
Wenn Johannes Jesus sagen lässt: „Ich bin der gute Hirte! Ich kenne die Meinen. Ich sorge für sie. Ich bin bereit mich mit meinem ganzen Leben dafür einzusetzen – dann stiftet Johannes auf diese Weise die Hoffnung, dass sich etwas ändern kann – nicht erst nach dem Tod, sondern jetzt schon.
Ein Bild, das mit diesem guten Hirten in Verbindung gebracht wird und das für mich zu den schönsten Bildern gehört ist der gedeckte Tisch im Angesicht der Feinde.
Stellt euch mal vor, was da los wäre, wenn plötzlich mitten auf dem Schlachtfeld ein langer Tisch aufgeschlagen wird: weiße, festliche, unbeschriebene Tischdecken – festliches Geschirr – köstliches aus der Natur: Platz genug für jede und jeden. Ausreichend zu essen und trinken. Ja, da wäre es vorbei mit der Feindschaft. Da könnten die Waffen niedergelegt werden und keiner muss mehr einen Löffel abgeben, sondern da wird gemeinsam gelöffelt und getafelt.
Mich berührt, dass sich Menschen solche Bilder ausdenken und dass sie solche Bilder geschenkt bekommen, die ihre Welt sofort verwandeln.
Ein Tisch im Angesicht der Feinde.
Das ist ein Verhandlungstisch im Krieg.
Das ist ein Stück geteiltes Brot mit dem Soldaten der anderen Truppe.
Da wo so ein Tisch gedeckt wird, da hört die Feindschaft auf.
Dieses Bild hat in unserer christlichen Tradition so einen wichtigen, besonderen Platz eingenommen: Jesus selbst das Brot und der Wein. Jesus, der an solche Tische einlädt und solche Tischrunden zusammengebracht hat.
Johannes schreibt sein Evangelium als Hoffnungsschrift – als Ermutigung neben den schrecklichen Bildern, die die damaligen Nachrichten in den Köpfen einnahmen und die Angst, die damit erzeugt wurde, neue Bilder zu stellen: Bilder, die Vertrauen fassen lassen.
Es gehört ja zu den Besonderheiten des Johannesevangeliums, dass nicht nur Jesus und sein Vater im Himmel eins sind, sondern dass in dieser Gemeinschaft eben auch der feste Platz der Gemeinde ist.
Nicht nur Jesus tritt in die Fußstapfen des Vaters im Himmel, sondern lädt seine Nachfolger ein, in seine Fußstapfen zu treten.
Das bedeutet: so in der Welt von Gott zu reden, dass Menschen aufatmen und frei werden – von Gott so menschlich reden, dass Menschen seine Nähe spüren können und gleichzeitig doch Gott nicht zu verweltlichen.
Das bedeutet: Tische zu decken, auch im Angesicht von schwierigen Situationen, im Konflikt, im Streit, in der Feindschaft. Es sind ja nicht gleich immer Feinde im kriegerischen Sinn, schon Fremden gegenüber sind viele feindlich gesinnt: voller Misstrauen und Angst.
Lasst uns Platz machen an unseren Tischen für Menschen, die bisher keinen Platz in unserer Mitte haben: an unseren Abendmahlstischen und auch an den Tischen der Gemeinde und zu Hause.
Jesus spricht: „Ich habe noch andere Schafe, die sind nicht aus diesem Stall.“